Yoga oder Folter?

Andres Veiel fragt am Deutschen Theater »Let Them Eat Money - welche Zukunft?!«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Gewiss ist in allem Jetzt bereits Zukunft da. Aber es widerstreiten die Tendenzen. Welche von ihnen sich schließlich durchsetzen werden, ist noch ungewiss. Man kann dies auch mit Ernst Bloch »Dunkel des gelebten Augenblicks« nennen. Zukunft also kann so, oder auch anders werden - ein Thema, das Andres Veiel im Stile einer dokumentarischen Ermittlung auf die Bühne des Deutschen Theaters bringt.

Ein Rückblick aus dem Jahr 2028 auf jene Entwicklungen, deren Beginn hier - etwas willkürlich - auf das Jahr 2018 datiert werden. Die Themen: staatliche Deregulierung bis hin zur Dominanz rechtsfreier Räume, Sonderwirtschaftszonen auf künstlichen Inseln irgendwo im Meer, fortgesetzter Zerfall Europas, Kryptowährungen gegen den Euro, Migration und Abschottung, bedingungsloses Grundeinkommen, absolute technische Überwachung, das Entstehen einer Art Internet-Guerilla, die sich über die Anzahl der »Follower« legitimiert - Partisanen, die sich die gestohlene Zukunft zurückholen wollen. Eine erwartbare Gemengelage von Utopie und Anti-Utopie, alles und nichts? Natürlich alles bedeutsame Themen, aber erst einmal doch nicht mehr als Debatte.

Andres Veiel, der den Abend zusammen mit Jutta Doberstein erarbeitete, scheint sich der Tatsache durchaus bewusst gewesen zu sein, dass es hier nicht um die Fortsetzung einer Konferenz über unsere digitale Zukunft geht, sondern um einen Theaterabend mit eigenen Gesetzen. Gesucht war dringend eine Form, eine dramaturgische Klammer für all die ausufernden Diskussionen. Also stellten sie eine Art Cyber-Performance auf die Bühne.

Da flackern nun Kontroll-Leuchten, bellen Anweisungen aus dem Off: »Vortreten zum Scannen der Iris«, die Technik scheint längst die Herrschaft übernommen zu haben, auch wenn diese sich, wenn es geschichtliche Fragen betrifft, als überaus einfältig erweist: Dramen passen nicht ins Plus-minus-Schema eines Rechners, in dessen Bauch wir hier offenbar gefangen sind. Der Widerspruch als Störfall. Das wäre durchaus ein Ansatz, um aus dem apokalyptischen Dauersummton herauszukommen. Statt dessen dann doch wieder nur intergalaktisches Design ähnlich einer Science-Fiction-C-Picture-Produktion der 1960er Jahre.

Ein derartiges Bild der gar nicht fernen Zukunft als das ganz andere zur antiquierten Gegenwart, als reines High-Tech-Gebilde erinnert mich an meine eigene Schulzeit. Da sollten wir als Vierzehnjährige Ende der 1970er Jahre die Stadt der Zukunft im Jahre 2000 zeichnen. Ich sparte nicht mit fliegenden Untertassen, die um gigantische Hochhäuser aus Beton und Glas kreisten. Was sind solcher Art Visionen wert? Wer träumt denn so etwas - oder ist das am Ende bloß Ausdruck einer auftragsgemäß technizistisch reduzierten Phantasie, bloße Manipulation?

Im Grunde sind wie hier immer beim Thema Utopie, die die Anti-Utopie in sich trägt. Auch dort findet sich die bei Veiel bevorzugte Insel-Metapher - etwa bei Thomas Morus in »Nova Atlantis«. Die Geschichte der Sozialutopien ist tatsächlich reich an Inseln: von der Außenwelt getrennte Orte sind ideal für Experimente, Zuflucht und Gefangensetzung für die Probanden zugleich.

Doch vielleicht ist Zukunft gar nicht das ganz andere zur Gegenwart. Die Große Koalition verwaltet hierzulande in zehn Jahren immer noch den Stillstand - und wir feiern das dann als Erfolg (wenigstens kein Rückschritt)? Die Cyborgs und fliegenden Untertassen müssen warten - oder aber sie erobern sich im Schatten dieses Stillstands beharrlich-heimlich ihre Reiche, die uns schließlich ganz und gar beherrschen?

Das sind gewiss höchst relevante Themen, die zu in sich kreisenden Diskursen verführen. Der Theaterproduktion ging dann auch tatsächlich ein Symposium am Humboldt-Forum voraus, unter dem Titel »Der nächste Staat - Rethinking State«. Theater als Quintessenz von Konferenzen? Man kann auch die Webseite »welchezukunft.org« anklicken, dabei seinen persönlichen Pegelstand zwischen Erlösungshoffnung und Verschwörungsangst bestimmen.

Vorn auf der Bühne bei den virtuellen Robin Hoods werden viele nebulöse Sätze gesprochen wie: »Von Crash spricht keiner, es ist die Welle.« In dieses - durchaus konventionell - mit breitem Pinsel gemalte Endzeitbild geraten dann auch einige biographische Splitter. Da ist etwa Yldune Kaayan (höchst präsent: Kathleen Morgeneyer) aus den Banlieues von Paris, die es als erste unter neun Geschwistern an eine Eliteuniversität schafft, ein Kind bekommt (Hoffnungsträger einer noch nicht definierten Zukunft: Luise Hart), zu den Pionieren der »Landbewegung« gehört und über Online-Petitionen die Macht der »Follower« begreift - schließlich zur Anführerin der anarchistischen Bewegung »Let Them Eat Money« wird, die aus dem virtuellen Raum in den realen übertritt: mitten hinein in die Ruinen Europas.

Es gibt noch ein Dutzend weiterer dieser fiktionalisierten Biographien von Aufsteigern und Absteigern, Außenseiter von gestern, heute oder morgen. Jürgen Huth etwa ist der alte Jürgen Bandowski, ein Berliner Trümmerkind, Paketausfahrer, der krank wird und per Algorithmus zurückgestuft wird - als er wieder gesund ist, haben Drohnen das Paketaustragen übernommen. Gut, dass er noch ein Gewehr versteckt hat, damit schießt er nun auf sie: Ganz einfach aufs Steuersystem zielen, dann kommen die nie an. Auch er schließt sich der Guerilla der Outsider an.

Schaurig kalte Welt, die von der Ökonomie beherrscht wird und alle Beteiligten, zwischen kurzzeitigen Höhenflügen, von Krise zu Krise mitreißt. Der moralische Fanatismus der neuen Partisanen (die doch wieder die alten Ideologen sind) scheint allerdings nicht weniger menschenfeindlich. Was tun? Vielleicht mal wieder zurückblicken auf die Geschichte, die noch nie etwas anderes war als ein großes Schlachthaus - und die dennoch kluge Analytiker gefunden hat von Machiavelli, Hegel und Marx bis zu Walter Benjamin oder Michel Foucault.

Wir sehen ein hoch und runter fahrbares Gestell und Seile, in die sich Schauspieler für luftakrobatische Nummern hineinhängen. Manchmal sieht das nach Yoga für Fortgeschrittene aus, manchmal wie Folter. Das könnt ein schönes Sinnbild für die Geschichte zwischen Heilsversprechen und Unheilsdrohung sein, wenn Veiel/Doberstein nicht ständig fixiert auf das Science-Fiktion-Interieur wären, das dem durchaus intelligenten Diskurstheater wieder etwas überanstrengt Altbackenes gibt.

Nächste Aufführungen: 9., 13., 27. Oktober.

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