Erst die Wohnung, dann die Hilfe

Berlin startet neues Modellprojekt »Housing First« für 70 bis 80 Menschen in drei Jahren

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 3 Min.

Klein soll das Projekt starten, mit zehn Menschen im ersten halben Jahr. Das liegt weder am fehlenden Willen noch am fehlenden Geld oder einem Mangel an Personal - sondern an der Schwierigkeit, Vermieter zu finden, die sich beteiligen wollen.

Worum es geht? Das Modellprojekt »Housing First« soll nun erstmals in Berlin starten. Genau genommen sind es zwei Teilprojekte: Etwa 30 wohnungslose Frauen sollen in den kommenden drei Jahren über den Sozialdienst katholischer Frauen in Wohnungen vermittelt werden, etwa 40 Männer und Frauen über eine Kooperation der Stadtmission mit dem Sozialdienst Neue Chance.

»Housing First« kommt aus den USA

»Pathways to Housing« - Wege zum Wohnen - hieß das Projekt aus den frühen 90er Jahren in New York, das sich zunächst an Menschen mit psychischen Problemen wandte, die auf der Straße lebten. In den USA wurden mit der Zeit immer mehr Nutzergruppen mit eingeschlossen: Menschen, die über lange Zeit in Obdachlosenheimen lebten, dann auch Menschen, die nach Krankenhausaufenthalten von Wohnungslosigkeit betroffen waren. Heute können zum Teil auch Familien davon profitieren.

In Europa wird das Modell mittlerweile unter anderem in Österreich, Frankreich, Schweden und Großbritannien angewendet. Studien zeigen, dass durch »Housing First« viele Menschen aus der Obdachlosigkeit geholt werden können. Viele Städte und Gemeinden übernahmen das Modell auch aus Kostengründen: Allein die Unterbringung von Menschen in Notunterkünften ist meist teurer als die Anmietung regulärer Wohnungen. jot

Der Ansatz »Housing First« wurde bereits in den 90er Jahren in den USA entwickelt. Anschließend verbreitete er sich zaghaft in Europa. In Deutschland gibt es erst seit Kurzem entsprechende Projekte, zum Beispiel in Köln. Bei der Neuen Chance in Berlin wurde das Thema seit 2012 diskutiert und in verschiedenen Konzepten auch dem Senat vorgestellt.

Sozialsenatorin Elke Breitenbach von der Linkspartei sieht den Ansatz als einen »weiteren Baustein im Hilfesystem«. »Housing First« sei für diejenigen Menschen gedacht, die »im bestehenden Hilfssystem gescheitert sind«, erklärt sie am Montag bei der Vorstellung des Modellprojekts.

In der Regel ist es für Menschen, die schon seit längerer Zeit obdachlos sind, ein weiter Weg zurück in eine Wohnung. Zunächst kommen sie - meist im Winter und nur über Nacht - in Notübernachtungen unter und können über Beratungen und Programme beispielsweise den Ausstieg aus der Drogen- und Alkoholsucht schaffen. Auf dem Weg dahin springen viele wieder ab. »Housing First« geht den umgekehrten Weg. »Die Menschen bekommen eine Wohnung - und zwar bedingungslos«, erklärt Breitenbach. Damit haben sie dann einen Rückzugsort und können erst einmal »Luft holen«, bevor sie sich den nächsten Schritten zuwenden. Sie bekommen Sozialarbeiter an ihre Seite, entscheiden aber selbst, ob und wann sie diese in ihre Wohnung lassen. »›Housing First‹ bedeutet nicht ›Housing only‹«, sagte Ingo Bullermann, Geschäftsführer der Neuen Chance.

Eine Vorbedingung gibt es aber doch: Von »Housing First« kann nur profitieren, wer auch einen Anspruch auf staatliche Transferleistungen hat. Die meisten Osteuropäer unter den Obdachlosen in Berlin könnten die Unterstützung also nicht in Anspruch nehmen. Außer, sie sind in Deutschland eine gewisse Zeit lang einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgegangen.

Interessenten für das Programm gibt es den Trägerorganisationen zufolge bereits einige. Der Sozialdienst katholischer Frauen fordert einzig, dass die Frauen von sich aus bei der Sozialorganisation vorstellig werden. »Und sie müssen willens sein, eine Wohnung anzumieten«, sagte die zuständige Bereichsleiterin Elke Ihrlich. Den Mietvertrag müssen sie selbst unterschreiben. Dann gelte: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Die Neue Chance nimmt nur Teilnehmer auf, die aus ihrer Sicht die Wohnung auch halten können. Wer beispielsweise schwer drogenabhängig oder schwer psychisch erkrankt und massiv verwahrlost sei, komme eher nicht infrage.

Alle Teilnehmer müssen zudem unterschreiben, dass sie sich an der Evaluation beteiligen werden. »Wenn sich daraus ergibt, dass das Projekt nur annähernd so erfolgreich ist wie die ›Housing First‹-Projekte in anderen Ländern, wird es mit Sicherheit weitergeführt«, sagt Breitenbach.

2018 stehen 190 000 Euro für das Modellprojekt zur Verfügung, in den Folgejahren sollen es 580 000 Euro sein. Pro Teilprojekt und Halbjahr sollen fünf weitere Menschen Wohnungen erhalten. Nach Ablauf des Projekts sollen sie in der Lage sein, diese selbst zu halten.

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