Pflege feiert Plansilvester

Umfrage: Bei bedarfsgerechten Schichten wäre die Arbeitszeit für 2018 bereits aufgebraucht

  • Lola Zeller
  • Lesedauer: 4 Min.

Wunderkerzen brennen, Korken knallen, der Sekt fließt auf dem Hermannplatz in Neukölln in Strömen. Lachend werfen junge Menschen in blauen Krankenhauskitteln Knallfrösche auf den Boden - dazu spielt Livemusik. Ist Silvester dieses Jahr schon am 22. Oktober?

Für die Pflegekräfte in deutschen Krankenhäusern ist das keine abwegige Idee, sagt Steffen Hagemann. Er ist Teil des »Berliner Bündnisses für mehr Personal im Krankenhaus«. Die vorgezogene Silvesterfeier der Pflegeaktivisten soll das symbolisieren. »Diese Aktion heute findet im Rahmen der ver.di-Kampagne ›Das Soll ist voll‹ statt«, sagt Hagemann. Ver.di habe bundesweit etwa 600 Stationen befragt, wie eine bedarfsgerechte Pflegepersonalbesetzung für die Station aussähe, und daraufhin ausgerechnet, dass die Personalkapazität bei bedarfsgerechtem Einsatz bereits aufgebraucht wäre, so Hagemann. »Das heißt also, das restliche Jahr wird eigentlich nur dadurch abgesichert, dass die Stationen unterbesetzt sind und die Krankenpfleger und Krankenschwestern Überstunden machen«, fährt er fort. »Dass die Pflegekräfte aus dem Frei einspringen, ist die Regel.«

Basierend auf der ver.di-Befragung beschloss das »Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus«, das neue Pflegejahr öffentlich mit einer Silvesterfeier einzuläuten. In dem Bündnis organisieren sich sowohl Krankenhausbeschäftigte als auch Patienten und weitere engagierte Menschen, sagt Hagemann. »Ich selber bin gelernter Krankenpfleger«, erzählt er. »Ich habe sieben Jahre in dem Beruf gearbeitet und ihn dann an den Nagel gehängt, weil ich die Zustände für nicht mehr tragbar hielt.«

Trotzdem sei bedarfsgerechte Pflege für ihn ein wichtiges Thema, denn es könne keine Lösung sein, wenn alle aus dem Beruf aussteigen. »Wir sind alle potenzielle Patienten, und jeder möchte für sich oder seine Angehörigen eine gute Pflege haben.« Diese könne aber im aktuellen Zustand von Unterbesetzung und Überarbeitung der Pflegekräfte nicht gewährleistet werden, so Hagemann.

Etwa 100 Menschen versammeln sich am Hermannplatz, um sich das Geschehen anzuschauen und den Pflegenotstand in Berlin zu diskutieren. Die Livemusik wird von einer Gruppe auszubildender Krankenpfleger*innen beigesteuert, welche in selbst geschriebenen Texten ihre eigenen Perspektiven darstellen. »Viva la Pflegelución« ist eines der Lieder, es beschreibt den stressigen und zermürbenden Alltag auf der Station - zugleich wird auf Veränderung gepocht. »Ich höre nicht auf zu lachen, werde immer weitermachen, meinetwegen nennt mich dumm - ich glaube an Veränderung«, heißt es in der letzten Strophe des Revolutionssongs.

Seit zwei Jahren gibt es bereits den Berliner Pflegestammtisch, bei dem auch die Musizierenden dabei sind. »Wir sind ein Verbund aus jungen Azubis und erfahrenen Pflegenden«, erzählt Lea, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte. Der Pflegestammtisch will Gewerkschaften und Berufsverbände zusammenbringen. Der Pflegeberuf soll mitgestaltet und weiterentwickelt werden, sagt Lea. »Wir haben in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal den ›Walk of Care‹ veranstaltet, eine Demonstration für menschenwürdige Pflege.« Der Erfolg sei nicht nur in Berlin groß gewesen, auch andere Städte hätten sich angeschlossen. Im nächsten Jahr soll der »Walk of Care« wieder am 12. Mai zum internationalen Tag der Pflegenden stattfinden. In diesem Jahr startete außerdem ein Volksentscheid »für gesunde Krankenhäuser«, initiiert vom »Berliner Bündnis für mehr Personal in Krankenhäusern«, berichtet Steffen Hagemann. Von Februar bis Juni seien 50 000 Unterschriften für mehr Pflegekräfte gesammelt worden, momentan laufe die juristische Prüfung.

Victoria Köster ist ebenfalls Teil des Bündnisses und selbst Krankenpflegerin. Sie sieht die Silvesterfeier als Erfolg, weil viele Akteure und Aktivisten des Gesundheitswesens vor Ort gewesen seien. »Ich hätte mir aber auch gewünscht, dass Leute, die nicht direkt im Bezug zum Gesundheitswesen stehen, kommen und sich beteiligen.« Denn diese seien ebenso betroffen vom Pflegenotstand. Köster beteiligt sich am Bündnis und an der Aktion, weil sie den Zustand in den Krankenhäusern als Gefährdung der Patient*innen wahrnimmt. »Jeden Tag muss ich Verantwortung für die Patienten übernehmen und kann dem eigentlich gar nicht gerecht werden«, sagt sie. »Die Bedingungen stimmen weder für die Patienten noch für die Mitarbeiter in der Klinik.«

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