Die Wahrsagerin aus dem Biologieunterricht

Bildungsgleichheit ist in Deutschland ein Fremdwort. Ein Erfahrungsbericht.

Es soll Menschen geben, die sich gerne an die Schulzeit erinnern. Ich gehöre nicht dazu. Stundenlanges Stillsitzen, Hausaufgaben ohne Ende und ständige Leistungstests waren nicht meins. Doch ein Ereignis ist mir besonders hängengeblieben: Eines Abends kam meine Mutter nach einem Elternsprechtag wütend nach Hause. Offenbar hatten meine Lehrer ihr nicht besonders viel Positives über mich erzählt. Auf diesem Elternsprechtag muss es gewesen sein, als die Biologielehrerin meiner Mutter mitgeteilt hat: »Ihr Sohn wird kein Abitur machen.«

Ich war zu dieser Zeit in der sogenannten Orientierungsstufe (OS), in die im damaligen Niedersachsen die Kinder in der fünften und sechsten Klasse gegangen sind. Eine Schulform, die in dem norddeutschen Flächenland längst abgeschafft ist. Damals begann die Haupt- oder Realschule und das Gymnasium ab der siebten Klasse. In der Sechsten wurden die Kinder in der OS in Mathematik, Englisch und Deutsch in A-, B1- und B2-Kurse eingeteilt – je nach Leistungsstand. Meine Biologielehrerin wusste offenbar schon damals, was ich Jahre später nicht packen würde. Ich war elf Jahre alt. Eine halbe Ewigkeit danach hatte ich erfolgreich die Universität absolviert.

Christian Baron hat im »Freitag« den Auschlag zur #unten-Kampagne gemacht. Darin sollen auch Menschen zu Wort kommen, die aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit mit Vorurteilen zu kämpfen hatten. Baron führt in seinem Beitrag eine Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm an. Demnach beginnen Kinder aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil einen akademischen Abschluss haben, zu 79 Prozent ein Studium. Aus Familien, in denen beide Elternteile keinen beruflichen Abschluss haben, seien es dagegen zwölf Prozent. Ich kenne niemanden bei uns in der – zugegeben kleinen – Verwandtschaft, der eine Universität besucht hätte. Außer mich selbst.

Dass ich auf dem Gymnasium oft schlechtere Noten als meine Mitschüler hatte, hat mit meiner Herkunft zu tun. Davon bin ich überzeugt. Deren Eltern waren Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer und Bankangestellte. Ich dagegen kam aus einem »bildungsfernen Haushalt«: Mein Vater kommt aus einer zerrütteten Familie, hat Maurer gelernt und über den Umweg Bundeswehr eine Fahrschule aufgemacht. Meine Mutter ist kaufmännische Angestellte und hat zuletzt in einer Behörde meiner Heimatstadt gearbeitet. Für sie war das ein sozialer Aufstieg, denn ihre Eltern waren Arbeiter – der Vater in der Papierfabrik und die Mutter in der Fahrradmontage. Ich sehe meine Großmutter noch auf einem Schemel sitzen und Speichen in eine Felge drücken. Auch das eine Erinnerung, die mir nach all den Jahren nicht aus dem Kopf geht.

Bei uns zu Hause wurde nicht vorgelesen. Bücher habe ich zum Geburtstag oder zu Weihnachten nicht bekommen. Christian soll mit den anderen Kindern spielen und kein »Stubenhocker« werden, meinte vor allem mein Vater. Dafür habe ich im Alter von vier oder fünf Jahren beim örtlichen Fußballverein angefangen. Da waren dann die Rabauken versammelt – und ich mittendrin.

In der Schule war ich stets im Nachteil: Als wir in der fünften Klasse mit dem Englischunterricht begannen, konnte niemand meine Hausaufgaben kontrollieren, geschweige denn sie mit mir machen. Bei den Französischvokabeln ab der siebten Klasse hätten sich meine Eltern vermutlich die Zungen gebrochen. Eine Mathematikgleichung mit zwei Unbekannten konnten sie nicht auflösen. Und eine Interpretation eines klassischen Gedichtes verursachte bei ihnen noch mehr Kopfschütteln als bei mir. Die Französischnachhilfe hat mich in diesem Fach vor dem Schlimmsten bewahrt.

Überhaupt waren die Hausaufgaben meiner Mitschüler meist besser als meine – wenn ich sie denn gemacht hatte. Da hatten ihre Eltern nochmal gründlich Hand angelegt. Einmal hat ein Mitschüler von mir in Mathematik eine »Gnadenvier« bekommen. Sein Vater war auch Lehrer an unserer Schule. Ich dagegen habe nach mehreren »Verwarnungen« zum Halbjahr das zwölfte Schuljahr wiederholen müssen. Eine »Gnadenvier« gab es für mich damals nicht.

Mein Elternhaus und die Leute, die bei uns verkehrten, haben mich bis heute geprägt. Sogenannte Szene- und Hippsterlinke sind mir bis heute fremd geblieben. Komme ich zurück in meine niedersächsische Heimat und Udo und Schorse sitzen bei meinen Eltern am Küchentisch, beides Beschäftigte im Mercedes-Benz-Werk in Bremen, dann ist es wieder da, dieses Gefühl von Zugehörigkeit zu denen, die morgens um fünf Uhr ihre Brote für die Frühschicht schmieren. Da fühle ich mich wohl, da bin ich zu Hause.

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