Chaos und Ruhe in der Ukraine

Poroschenko unterzeichnet Gesetz zur Einführung des Kriegsrechts

  • Denis Trubetskoy, Kiew
  • Lesedauer: 3 Min.

Großes Chaos - nur so lässt sich der Zustand zusammenfassen, in dem sich am Dienstag die ukrainischen Regierungsbehörden befanden. Am Vortag hatte das Parlament die Ausrufung des Kriegsrechts angesichts der Zuspitzung der Krise am Asowschen Meer in zehn ukrainischen Regionen beschlossen. Allerdings war man sich selbst bei der Präsidialverwaltung und im Sicherheitsrat nicht sicher, wann der Kriegszustand wirklich in Kraft treten soll - dazu gab es letztlich völlig unterschiedliche Angaben. Am Mittwochmorgen klärte sich die Frage: Sowohl der Parlamentsvorsitzender Andrij Parubij als auch Präsident Petro Poroschenko unterzeichneten das entsprechende Gesetz. Darin begann das 30-tägige Kriegsrecht offiziell jedoch bereits am Montag, und wird somit vorerst bis zum 26. Dezember dauern.

Bisher hat sich aber für den Durchschnittsukrainer in den zum Kriegszustand ausgerufenen Gebieten so gut wie nichts geändert. Konkret heißt das: Die Bürger dürfen frei ein- und ausreisen, kulturelle und sportliche Events sollen zumindest aus Kiewer Sicht wie geplant stattfinden. Eine Sperre ist nicht vorgesehen - und die Bürger müssen auch nicht immer ihren Pass mitnehmen, um sich ausweisen zu können. Dem Gesetz zufolge können die Bürgerrechte und die Pressefreiheit aber jederzeit eingeschränkt werden, eine konkrete Grundlage muss nicht vorliegen.

Auch beim Thema potenzielle Mobilmachung bleibt alles beim Alten: Vorerst wird sie nicht durchgeführt. Allerdings müssen Auto- und Busfahrer bei der Einreise ins Kriegsrechtsgebiet mit Checkpoints rechnen - und alle Ausländer, die sich dort befinden, sollen sich bei der Migrationsbehörde registrieren. Besondere Restriktionen werden vor allem russische Staatsbürger betreffen: bei der Grenzkontrolle mussten sie bisher ohnehin schon mit längeren Befragungen als üblich rechnen. Seit Montag verweigert die Ukraine nun mehreren Russen die Einreise. Am Dienstag bestätigte Petro Poroschenko in einem Interview mit dem Nachrichtensender CNN, dass neue Regeln für die Einreise der Russen während des Kriegsrechts derzeit erarbeitet würden. Das diesbezügliche Dokument soll Poroschenko zufolge noch am Mittwoch veröffentlicht werden.

In Poltawa, 345 Kilometer östlich von Kiew, aber nicht zur Kriegsrechtszone gehörend, mussten bereits die Fußballfans die schmerzhaften Folgen des Kriegszustandes spüren. Das viel erwartete Spiel der Europa League zwischen dem örtlichen Worskla und Arsenal London wurde vom europäischen Verband UEFA aus Sicherheitsgründen nach Kiew verlegt. In der Hauptstadt selbst ist die Stimmung zwar aufgeregter als sonst - und das Thema Kriegsrecht kommt fast in allen Alltagsgesprächen vor. Dennoch geht das normale Leben weiter, obwohl die Schlangen in Lebensmittelgeschäften und in Banken größer sind als sonst. Der Kurs der Nationalwährung Hrywnja ist derzeit instabil und ändert sich mehrmals täglich, ein großer Kursverlust ist jedoch im Moment eher unwahrscheinlich.

In der öffentlichen Debatte wird wiederum vor allem darüber diskutiert, ob ein Kriegszustand, der de facto am Leben des Landes nur wenig ändert, überhaupt notwendig ist. Die mit dem Präsidenten Poroschenko in Verbindung gebrachten Politologen Olexij Holobuzkij und Taras Beresowez verteidigen die Ausrufung des Kriegsrechts offen. »Diese schnelle Entscheidung des Präsidenten hat das Land vor einer erneuten russischen Invasion gerettet«, meint Ersterer. »Das alles hat doch nichts mit einem echten Kriegszustand zu tun. Wenn man die erste Gesetzversion liest, dann ist sofort klar: Das einzige Ziel war und bleibt, den Wahlprozess zu beeinflussen«, kritisiert dahingegen Politologe Petro Oleschtschuk von der Kiewer Schewtschenko-Universität. »Viereinhalb Jahre nach der Annexion der Krim wird das Volk immer noch belogen.«

Auf der annektierten Krim selbst behalten dagegen zumindest die offiziellen Behörden die Ruhe. »Das Kriegsrecht in der Ukraine enthält keine Gefahren für die Krim«, meint Sergej Aksjonow, Ministerpräsident der Republik Krim. »Dank der Unterstützung unseres Präsidenten Putin ist die Krim eine uneinnehmbare Festung. Niemand darf die russische Staatsgrenze verletzen.«

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