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Hauptsache, süffige Geschichten

Der Fall »Claas Relotius« ist kein Unfall und keine Katastrophe, sondern Ausdruck des Journalismus à la mode, für den der »Spiegel« Maß und Vorbild abgab, bis die Erzählblase platzte, meint Rudolf Walther

  • Rudolf Walther
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Textgattung »Story« bzw. »Titelgeschichte« ist durch den Geschichtenerzähler Claas Relotius vom »Spiegel« ins Gerede gekommen. »Spiegelgeschichten« zerkleinern komplexe politisch-soziale Prozesse und Zusammenhänge mittels Anekdoten, Spekulationen, Hotelbar-Talk unter Kollegen und Legenden zu Geschichtchen und servieren das Ganze in mehrgängigen Menüs als mundgerechte Häppchen. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger unterschätzte in seiner Abrechnung mit der »Sprache des Spiegels« (1957) freilich die Dimension des Problems des Textgenres, weil er darin nur eine »Masche« oder einen »Jargon« sah. Der Rat, Artikelanfänge und ganze Texte so zu drechseln, dass sie den Leser gleichsam in die »Geschichte hineinziehen«, ist zum flächendeckend approbierten Hausmittelchen geworden. Krawatten- und Pulloverfarbe, Frisur und Make-up, Hausnummer und Automarke haben Argumente, Informationen, Interessenlagen und Konfliktlinien verdrängt. Hauptsache, süffige Geschichten.

In der »spiegel«-typischen Personalisierung von Nachrichten und der Zerlegung von Reportagen und Berichten zu Geschichtchen, die Enzensberger bemerkte, lag schon 1957 die Keimform des Storytelling-Journalismus und damit des aktuellen Skandals. Was Enzensberger damals noch als »Masche« bezeichnete, hat sich inzwischen im Schnellgedruckten zur Seuche ausgewachsenen, nicht zuletzt auch dank akademisch-wissenschaftlichem Beistand.

Zur Person:
Rudolf Walther ist Historiker und freier Autor. Er lebt in Frankfurt am Main.

»Storytelling« hat seine dürftige intellektuelle Basis in der »Erzähltheorie«. Deren Axiom ist der locker herzitierte Zweifel »an der Durchsetzbarkeit einer glatten Trennung zwischen Vernunft & Wahrheit einerseits, Erzählung & Lüge andererseits«, so der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke. Diese »Theorie« trug dem Autor 2003 den angesehenen Leibnizpreis ein. Aber was bedeutet das in einer medialen Welt, die dem Nachwuchs in Wissenschaft und Journalismus die Nicht-Unterscheidbarkeit von Mythos und Logos, von Legende und Geschichte, von Lüge und Realität unterjubelt und damit die Konsistenz von Texten zur Geschmacks- oder Befindlichkeitsfrage erklärt?

»Spiegelgeschichten« leben nicht nur vom »allgegenwärtigen Jargon«, wie Enzensberger vereinfachend meinte, also von Modewörtern, saisonal wechselndem Slang, grellem Sound, rhetorischen und syntaktischen Gags. Diese Mätzchen bilden die Oberfläche des Problems: Sie gehören heute zur Grundausstattung und werden in Journalistenschulen gelehrt und gelernt, ja normativ kodifiziert. Sie machen das in unseren Medien dominierende Öd- und Blöd-Deutsch aus, mit dem man Reporterpreise gewinnt. »Sind Sie noch am Fokussieren oder Positionieren Sie schon«?

Mit dieser Kritik blieb jedoch der Kern des Problems, das »Storytelling« und dessen Verhältnis zu Bericht, Reportage, Analyse und Urteil, unterbelichtet. In zwei Zusätzen zum »Spiegel«-Essay in der Druckfassung von 1962 kommt Enzensberger auf politische Implikationen des »Storytelling« zu sprechen. Er deutete die Angst von Kritikern vor dem »Beifall von der falschen Seite« rustikal als »ein Charakteristikum totalitären Denkens«, weil es auf der trivialen Devise beruhe: »Was dem Gegner nützt, muss unterbleiben. Was der eigenen Seite nützt, geschieht.«

Dieses triviale Niveau hat der Storytelling-Journalismus längst unterboten. In seiner Syrien-Reportage anhand der Beschreibung des Lebens eines halbwüchsigen Mädchens kommt Relotius völlig politikfrei daher: Er kennt weder »Gegner« noch »Nutzen«, sondern nur noch vermeintlich reflexions-, argumentations- und interessenfreie Augenzeugenschaft und räkelt sich in der gefühlig-verlogenen Unmittelbarkeit des historischen Präsens des Boulevard-Journalismus. Witterte Enzensberger hinter dem »Spiegel«-Journalismus immerhin noch die Absicht, »die« Herrschenden ließen »das« Bestehende durch »die« Medien absegnen und belebte damit nach der Ansicht seines Biografen Jörg Lau »das alte Schema vom Priesterbetrug« - also von vulgarisierter, plattgewalzter Aufklärung -, setzt Relotius‘ Storytelling-Journalismus auf die rührende Geschichte über syrische Mädchen in bösen Zeiten. Die Restaufklärung, die Lau Enzensberger noch zubilligt, wird im Kitsch ertränkt.

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