Stadtbild: Stolz auf Taubenkot

Die Stadtbild-Aussage von Friedrich Merz wurde falsch verstanden, findet Andreas Koristka

  • Andreas Koristka
  • Lesedauer: 3 Min.
Eine echte Attraktion im Berliner Stadtbild: der Dauerstau rund um den neuen Abschnitt der Stadtautobahn A100
Eine echte Attraktion im Berliner Stadtbild: der Dauerstau rund um den neuen Abschnitt der Stadtautobahn A100

Noch immer gibt es einigen Wirbel um Friedrich Merz’ Äußerungen zum Stadtbild. Dabei liegen die Probleme auf der Hand: Etwas Hässlicheres als deutsche Städte findet man international kaum. Städte wie Ludwigshafen, Leverkusen, Eisenhüttenstadt und München in einem Atemzug mit Florenz, Barcelona oder Ulan Bator zu nennen, kommt für die Letztgenannten einer Beleidigung gleich.

Das deutsche Stadtbild ist eine menschengemachte Katastrophe. Wer sie leugnet, der leugnet auch den Fernsehturm in Hannover, die City-Galerie in Siegen und ziemlich alles, was in Berlin in den letzten 30 Jahren gebaut wurde. Wenn es meine rare Zeit zulässt, unternehme ich mit meiner Familie Ausflüge zur Berliner Elsenbrücke. Der vor Kurzem eröffnete Streckenabschnitt der A100 ist nicht nur besonders hässlich, sondern führt an dieser Stelle zu einem Verkehrschaos.

Ich möchte, dass die Kinder lernen, Lebensfreude daraus zu ziehen, dass sie nicht im Inneren eines der im Stau stehenden Fahrzeuge stecken. Mir selbst gibt dieser Gedanke Kraft in mancher trüben Herbststunde. Außerdem kann man durch die Autofenster ganz wunderbar die Warnzeichen eines drohenden Herzinfarkts studieren. Vielleicht kann meinen Nachkommen dieses medizinische Wissen irgendwann von Nutzen sein …

Wenn man meine Tochter fragen würde, was das Problem am deutschen Stadtbild sei, würde sie wohl antworten, dass dieses vermaledeite Stadtbild ihren Vater dazu veranlasst, sie regelmäßig dazu zu zwingen, an die Elsenbrücke zu fahren. Aber irgendwann, wenn sie älter ist, wird auch sie die Fußgängerzonen sehen – mit dem Doppel-T-Verbundpflaster, den Bushaltestellen von den Stadtmöblierungsunternehmen und den Trinkbrunnen, an denen sich die Obdachlosen umsonst die Haare waschen können.

Andreas Koristka
Autorenfoto von Andreas Koristka am Donnerstag, den 10. Oktober ...

Andreas Koristka ist Redakteur der Satirezeitschrift »Eulenspiegel«. Für »nd.DieWoche« schreibt er alle zwei Wochen die Kolumne »Betreutes Lesen«. Alle Texte unter dasnd.de/koristka.

Dann wird auch sie die Scham empfinden, die Friedrich Merz zu seiner legendären Aussage trieb und mir noch immer durch Mark und Bein geht: »Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.«

Das muss man sich mal vorstellen! Dem deutschen Bundeskanzler sind die Stadtbilder mittlerweile so peinlich, dass er sie den Ausländern nicht zumuten will! Lieber lässt er die Leute von Alexander Dobrindt nach Hause schicken.

Menschlich kann man das nachvollziehen, aber es ist trotzdem falsch. Man muss zu seiner Unvollkommenheit stehen! Es ist merkwürdig, dass man das einem Bundeskanzler sagen muss, der seit vielen Jahren seine Haarinsel nicht abrasiert. Genau wie diese Haarinsel könnten wir stolz die Bahnhofsunterführungen mit dem Taubenkot, die Bahnhofsvorplätze mit der Trinker- und Crackszene und das Backwerk-Lädchen präsentieren. Eine internationale Werbekampagne muss her, die das Interesse an leeren Hundekotbeutelspendern und trostlosen Spielzonen mit Federwippfiguren entfacht.

Wenn Deutschland für sein hässliches Stadtbild wieder geachtet wird, muss der Kanzler nicht mehr schamhaft abschieben. Und ich werde irgendwann mit vielen Touristen an der Elsenbrücke stehen.

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