»Ich habe gelernt, wütend zu sein«

Nach 15 Jahren im Europaparlament tritt Gabi Zimmer, Fraktionschefin der Linken, nicht wieder zur Wahl an.

Bonsais. Bonsais würden ihr gefallen. So zwei, drei Stück, dort an der schmalen Terrassenseite hinter dem Haus, auf einem Regal, das wäre schön. Man kann die Minibäume pflegen, hätscheln, beschneiden, ganz in Ruhe, fast schon meditativ. In der Nähe gibt es eine Gärtnerei, die sich auf die japanischen Zwerggewächse spezialisiert hat. »Später«, sagt Gabi Zimmer, »wenn ich Zeit habe.«

Zeit haben, das wird sie vermutlich ab dem Frühsommer. Vielleicht noch ein paar Wochen, um ihr Amt abzuwickeln, Kisten zu packen, eine ordentliche Übergabe an ihre Nachfolgerin oder ihren Nachfolger durchzuführen. Im Mai sind Europawahlen und Gabi Zimmer, Mitglied der LINKEN, Europaabgeordnete und Chefin der Linksfraktion, wird nicht wieder antreten. Weil sie Platz machen will für Jüngere. Weil sie überzeugt ist, dass ein Wechsel an der Spitze neuen Schub geben kann. Auch: »Weil 15 Jahre Wochenendehe mehr als genug sind.«

Gabi Zimmer, 1955 geboren, zwei Kinder. Studierte Sprachmittlerin - Russisch und Französisch -, Betriebszeitungsredakteurin im Jagdwaffenwerk Suhl, nach der Wende PDS-Landesvorsitzende in Thüringen und von 2000 bis 2003 Bundesvorsitzende der Partei, als Nachfolgerin von Lothar Bisky. Dass sie damals nicht erneut kandidierte, hatte auch mit den Flügelkämpfen in der PDS zu tun. Im Jahr 2004 ist die gebürtige Berlinerin erstmals ins Europäische Parlament eingezogen; 2009 und 2014 wurde sie wiedergewählt. Das alles weiß Wikipedia über die Personalie Zimmer.

Nichts sagt das Onlinelexikon über den »kleinen Kulturschock«, den die Politikerin in Brüssel erlebte. »Ich habe gemerkt, wie eng mein Blick vorher auf das Nationale gerichtet war und wie sehr es auf mich selbst ankommt, dass sich im Parlament etwas bewegt.« Denn einer der wesentlichen Unterschiede des Europaparlaments beispielsweise zum Bundestag ist, dass für Entscheidungen oft Bündnisse auch über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg gesucht werden müssen - und gefunden werden. Das habe sie gerade im Entwicklungsausschuss erlebt, in dem sie nach ihrer ersten Wahl ins Europaparlament arbeitete. Sie habe dort viel gelernt, gerade was den Blick über Europa hinaus anbelangt.

Es war abermals Lothar Bisky, der die Weichen der politischen Vita von Zimmer stellte. Es habe schon ein »Geschmäckle« gehabt, wie Bisky, seinerzeit Fraktionschef der Linken im EU-Parlament, sie im März 2012 als Nachfolgerin in die Funktion gedrängt habe, erzählt Zimmer. Aber es gab niemanden, dem zugetraut wurde, die bunte Truppe zu führen. »Ich hatte mir eigentlich geschworen, dass ich nach meinen Erfahrungen als PDS-Vorsitzende niemals mehr irgendwo so eine herausgehobene Funktion auch nur in Betracht ziehen würde. Und bin dann doch in diese Situation gekommen.« Hat sie es bereut, den Posten übernommen zu haben? »Bereut nicht, aber geflucht habe ich manchen Abend.«

Bisky hatte ihr einen gut gemeinten Tipp mit auf den Weg gegeben: Nerven behalten. Er selbst hatte seinen Posten ausdrücklich auch mit Verweis auf den Zwist in der Fraktion Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke aufgegeben. Der sperrige Name der Linksfraktion lässt bereits die Probleme erahnen, die für Zimmer Tagesprogramm sind. »Alles, was es in der Linken an unterschiedlichen Vorstellungen zu Europa gibt, ist bei uns in der Fraktion existent. Und es ist nicht immer einfach, dort die Balance zu finden und das in den Vordergrund zu stellen, was uns wirklich zusammenhält als linke Fraktion«, konstatiert Zimmer. Dazu gehöre, mehr als noch vor zwei, drei Jahren, die Frage, wie der fortschreitende Rechtstrend in Europa aufgehalten werden kann. »Rechtsextremismus und Antisemitismus, das sind im Moment sehr große Herausforderungen. Wir setzen uns gemeinsam für eine humanistische EU-Politik ein, eine europäische Migrations-, Asyl- und Flüchtlingspolitik, die eben verhindert, dass Menschen im Mittelmeer sterben müssen. Und dafür, dass Solidarität wieder in dem Sinne interpretiert wird, wie es der Begriff meint«, sagt die Fraktionschefin. Es sei eben keine Solidarität, wenn zum Beispiel Ungarn geholfen werden soll, seine Außengrenzen zu befestigen.

Besonders am Herzen liegt Zimmer der Einsatz für die Umwandlung der EU in eine soziale Union. Aus den Bürofenstern der LINKE-Delegation im Brüsseler Parlamentsgebäude, dort sitzt auch Zimmer, kann man auf die Place du Luxembourg sehen. Auf dem Platz vor dem Haupteingang des Parlaments finden regelmäßig Proteste gegen die unsoziale Politik der EU statt. »Über 120 Millionen Menschen in der EU leben in Armut, Millionen arbeiten unter schlechten Bedingungen für schlechte Löhne«, berichtet Zimmer. »Die EU muss das Leben der Menschen verbessern, statt ihnen zu schaden.« Die Säule der sozialen Rechte, die ein Sozialgipfel Ende 2017 verabschiedete, hält sie für eine Mogelpackung mit unverbindlichen Versprechen. Darüber kann sie sich im Plenum aufregen, laut und deutlich. Auch über anderes. Zum Beispiel darüber, dass der damalige Parlamentspräsident Martin Schulz eine Abstimmung zum EU-USA-Handelsabkommen TTIP kurzerhand absagte, weil den EU-Gremien eine schallende Ohrfeige für die Missachtung der Interessen der »kleinen Leute« drohte. Ihr emotionaler Ausbruch im Parlament ist legendär. »Ich habe gelernt, wütend zu sein«, sagt Zimmer.

Freihandelsabkommen, Frieden, Soziales - in solchen Fragen zieht die Fraktion an einem Strang. Bei anderen ist es schwieriger. Zu unterschiedlich sind die Positionen zur europäischen Integration, zu verschieden Traditionen, Erfahrungen, auch die Parteistrukturen. Mancher Abgeordnete musste vor jeder Entscheidung die Vorgabe seines Zentralkomitees abwarten. Zudem haben die Fraktionsmitglieder natürlich auch die Spezifik ihrer Heimatländer im Blick. Wie etwa jene finnische Parlamentarierin, die bei der Einschränkung von Lenkzeiten von Lkw- und Busfahrern eine dezidiert andere Meinung als die Fraktion hatte - schließlich sind die Fahrstecken in Skandinavien deutlich länger als jene beispielsweise in Mitteleuropa.

Die Tatsache, dass die Fraktion zusammenhält und trotz der teilweise heftigen Debatten eine konstruktive Sacharbeit geleistet wird, ist ohne jeden Zweifel wesentlich Zimmer zu danken. Sie gilt als der eher nüchterne Typ, der zielgerichtet auf ein Ergebnis hinarbeitet. Als sie der Hamburger LINKE-Parteitag 2014 an die Spitze der Europaliste wählte, fielen keine Luftballons von der Decke wie fünf Jahre zuvor bei Lothar Bisky, auch ein Tusch blieb aus. Die Regie wusste, dass Zimmer so etwas nichts abgewinnen kann. Ein schnelles Lächeln huschte über ihr Gesicht, das war’s, die Arbeit kann weitergehen.

Dass die sieben Brüsseler Abgeordneten der LINKEN zumindest am Anfang stärker in die Ausarbeitung des EU-Wahlprogramms einbezogen wurden als vor den vergangenen Europaparteitagen, hält sie für einen großen Schritt nach vorn. Zumal die Bilanz der »Delegation«, wie die Parlamentsgruppen einer Partei genannt werden, belegt, dass europäische Politik durchaus beeinflusst und verändert werden kann. Die Frage, ob man die EU nicht generell abschaffen sollte, ist in der LINKEN nicht vom Tisch, glaubt Zimmer. Auf dem Parteitag am Wochenende in Bonn wird dieser Punkt abermals zur Debatte stehen - in Form der Präambel des Wahlprogramms, die den einen zu europafeindlich, den anderen zu europafreundlich ist. Gemeinsam mit anderen LINKE-Politikern wie Gregor Gysi und den Europaministern Thüringens, Brandenburgs und Berlins hat sie sich zu Wochenbeginn klar positioniert: »Nur die EU selbst ist der Schlüssel zur Lösung der vielfältigen sozialen, politischen und ökologischen Probleme unserer Zeit«, heißt es in einem Positionspapier.

Zum Abschneiden der Linken bei den Europawahlen im Mai dieses Jahres mag die GUE/NGL-Chefin keine Prognose abgeben. Vermutlich auch, weil die europäischen Linken im Moment eher ein zersplittertes Bild abgeben. Sicher ist sich Gabi Zimmer indes, dass die nächste Linksfraktion im EU-Parlament wegen der vielen unterschiedlichen Positionen erneut auf konföderaler Basis arbeiten wird. Sie wird dann vielleicht Bonsais beschneiden.

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