Schokopudding? Auf nach Berlin!

»A wie Jüdisch«: Eine Ausstellung zum gegenwärtigen jüdischen Leben in Deutschland, vom Rap bis zur Gedenkkultur

  • Jörn Schulz
  • Lesedauer: 5 Min.

Religiöse Regeln gelten als Spaßbremse; insbesondere dem Judentum wird oft unterstellt, mit seinen 248 Geboten und 365 Verboten sowie einem komplexen Ritualwesen den Menschen ein enges Korsett anzulegen. Doch es gibt Überraschungen. Wer sich in der Ausstellung »A wie Jüdisch« dem Gebots-Glücksrad zuwendet, stößt auf die Aussage: »Es ist ein Verbot, Frauen ihren Anspruch auf Sex zu verweigern. Lassen Sie sich nicht zweimal bitten.«

Und wenn der Partner Migräne hat? Solche Ausreden ließen die jüdischen Theologen offenbar nicht gelten, sie schrieben, abgestuft nach Berufsgruppen, ein- bis zweimal Sex pro Woche vor. Der Mann wird zudem gemahnt, nichts zu übereilen, es gibt recht detaillierte Handlungsanweisungen, die sicherstellen sollen, dass die Frau im Bett Spaß hat. Allerdings nur im Ehebett, denn um den Kodex einer patriarchalen Gesellschaft handelt es sich trotz solcher vergleichsweise fortschrittlichen Gebote. Bemerkenswert bleibt, dass dem Sex jenseits der Fortpflanzung ein hoher Wert zugesprochen wird. »Durch die Einbindung in ein ethisches System wird sexuelles Verlangen spiritualisiert«, schreibt die Theologin Tanja Kröni im jüdischen Onlinemagazin »Hagalil«.

Die Kontextualisierung fehlt in der Ausstellung allerdings. Sie ist bei theologischen Fragen wohl auch kaum möglich, wer neugierig geworden ist (Was fängt man eigentlich heutzutage an mit dem Verbot für den König, zu viele Pferde zu halten?), kann sich ja auch nach dem Museumsbesuch informieren. Ohnehin hat sich nur die Hälfte der Schätzungen zufolge etwa 200 000 in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden einer Gemeinde angeschlossen.

Die Ausstellung »A wie Jüdisch« gibt anhand der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets, denen jeweils eine Zahl entspricht (ein den römischen Zahlen vergleichbares System, im modernen Hebräisch bedient man sich der indischen Zahlen), einen Einblick in das heutige jüdische Leben in Deutschland. Man kann über das Alphabet auch singen - die Besucher begrüßt ein Video mit Victoria Hannas kabbalistischem Rap »Twenty-two letters«. In der Ausstellung wird dreidimensionalen Buchstaben jeweils ein Thema zugeordnet, sie stehen für sich, nehmen aber auch Bezug aufeinander.

Programmdirektorin Léontine Meijer van Mensch und Kuratorin Miriam Goldmann präsentieren ausschließlich zeitgenössische Ausstellungsstücke und viele multimediale Angebote: So kann man etwa anhand von Hörproben erkunden, »was Musik jüdisch macht«. An der Vorbereitung waren auch 100 nicht jüdische Schüler beteiligt. Dargestellt wird, vom Gesangs- und Tanzwettbewerb »Jewrovision« bis zum »Schabbat-Set To Go« für die Reise, die Vielfalt jüdischen Lebens, dessen Veränderung in jüngster Zeit und das Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft.

Oft steht die veränderte Rolle der Mädchen und Frauen im Mittelpunkt. Seit dem 20. Jahrhundert gibt es neben der Bar Mitzwa, der rituellen Einführung in die Gemeinde als religiös mündiger »Sohn des Gebots«, die Bat Mitzwa für Mädchen. Die Modernisierung des Umgangs mit heiligen Schriften wird nicht nur anhand des Bilds eines Roboters dargestellt, der eine Thora schreibt, sondern auch durch ein Gemälde, das orthodoxe Frauen beim traditionell den Männern vorbehaltenen religiösen Studium zeigt. Hier wären, auch weil »die Orthodoxen« - tatsächlich handelt es sich um Gruppen mit recht unterschiedlichen Glaubens- und Lebensformen - heute noch immer als die Klischee-Juden schlechthin herhalten müssen, zusätzliche Informationen über solche Emanzipationsbestrebungen und den sicherlich vorhandenen Widerstand dagegen nützlich gewesen.

Ähnliches gilt für den sehr knapp dargestellten, gänzlich anders gelagerten »Schokopudding-Skandal« des Jahres 2014. Damals hatte ein junger Israeli auf Facebook mit dem Verweis auf den unschlagbar günstigen Discounter-Preis in Deutschland »Wir sehen uns in Berlin!« gepostet und damit einige Empörung inklusive der Zurechtweisung durch einen israelischen Minister auf sich gezogen.

Es ging ihm jedoch nicht um den Pudding und eine frivole Aufforderung (»Kommt ins Land der Täter«), sondern um den Protest gegen untragbar hohe Lebenshaltungskosten in Israel. Dennoch gibt es eine Veränderung der Haltung zum Land der Täter unter Israelis wie unter deutschen Juden. A wie Antisemitismus? Die Ausstellung präsentiert ihn nicht als Einzelthema, sondern als Teil des jüdischen Alltags. Etwa beim achten Buchstaben Chet: Hummus, wo auf das Restaurant »Schalom« in Chemnitz hingewiesen wird, das am 27. August vorigen Jahres von Rechtsextremen angegriffen wurde. Das ist wohl erschreckender, als es eine plakative Herausstellung wäre - die Aufmerksamkeit und Sensibilität der Besucher vorausgesetzt.

Mehrfach thematisiert wird auch die Entwicklung der Erinnerungskultur. Nicht selten wird in Deutschland behauptet, das jüdische Leben sei »zurückgekehrt«. Tatsächlich ist der Zuwachs aber vor allem eine Folge der Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion, wodurch sich nicht nur das Gemeindeleben veränderte. Tet, der neunte Buchstabe des hebräischen Alphabets, symbolisiert in der Ausstellung den 9. November 1938, der traditionell im Zentrum des Gedenkens steht, und den 9. Mai 1945, in der Sowjetunion (und ihren Nachfolgestaaten) der Gedenktag des Sieges über Nazideutschland. Aus der ehemaligen Sowjetunion eingewanderte Juden begehen diesen Tag voller Stolz als Tag des Sieges, ein bewegendes Foto zeigt Veteranen mit ihren Orden vor einem sowjetischen Panzer.

Vorgestellt wird auch die überwiegend von jüngeren jüdischen Künstlern und Intellektuellen vorgetragene Kritik an der deutschen Gedenkpolitik: Diese weise den Juden die Aufgabe zu, den Deutschen zu bescheinigen, wie sehr sie sich zu ihrem Vorteil verändert haben. Dalet, der vierte Buchstabe, steht für Desintegration, verwiesen wird auf den »Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen« im Jahr 2016, und wer viel Zeit mitbringt, kann das ausliegende Buch »Desintegriert euch!« von Max Czollek lesen, »von einem, der auszog, kein Jude zu werden. Sondern ein Politikwissenschaftler, ein Schriftsteller und Intellektueller. Und von einem, der schließlich auch Jude wurde.«

In die Komplexität, Entwicklung und Vielfalt »jüdischer Identität« zwischen Selbstbestimmung und dem Druck einer Gesellschaft, in der auch jenseits des offenen Antisemitismus Juden oft als irgendwie anders gesehen werden, gibt es einen guten Einblick. Man wünscht sich hin und wieder mehr Hintergrundinformationen, doch obwohl die Ausstellung als Alphabetisierungskurs mittels Impressionen konzipiert ist, lernt auch jeder, der über das zeitgenössische Judentum halbwegs Bescheid zu wissen glaubt, etwas dazu und findet die eine oder andere Überraschung.

»A wie Jüdisch«. Bis zum 30. September im Jüdischen Museum in Berlin.

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