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Test für die ukrainische Demokratie

Komiker Wolodymyr Selenskyj gewinnt überlegen die Präsidentschaftswahlen

  • Denis Trubetskoy, Kiew
  • Lesedauer: 5 Min.

»Ich liebe mein Land. Ich liebe meine Frau. Ich liebe meinen Hund«, ist im Wahlquartier des Komikers Wolodymyr Selenskyj zu hören, als er am Sonntagabend vor der Verkündung der Hochrechnungen zur Präsidentschaftswahl auf die Bühne steigt. Und es ist nicht irgendein Lied, sondern der Soundtrack der Satire-Serie »Diener des Volkes«, in der der 41-Jährige, bekanntester Satiriker des Landes, einen Geschichtslehrer spielt, der nach einer Wutrede über die Politik quasi über Nacht zum Präsidenten wird. Selenskyj ist zudem erfolgreicher Fernsehproduzent mit dem Unterhaltungsimperium »Kwartal 95« im Rücken. Trotzdem hätte man sich Selenskyjs Sieg im echten Leben vor einem Halbjahr kaum vorstellen können.

Auf dem großen Bildschirm werden Zahlen eingeblendet, die für niemanden im Wahlstab mehr eine Überraschung sind. Sie sind dennoch recht sensationell: 73 Prozent für Selenskyj bedeuten den höchsten Stichwahlsieg in der ukrainischen Geschichte - und eine vernichtende Niederlage für den Amtsinhaber Petro Poroschenko.

»Ich will heute ohne Pathos sprechen«, fängt Selenskyj seine kurze Siegesrede an. »Wir haben das zusammen gemacht. Ich werde euch nicht enttäuschen.« Die strahlenden Gesichter seiner Verbündeten, etwa des Ex-Finanzministers Olexander Danyljuk oder des Ex-Journalisten und Parlamentsabgeordneten Serhij Leschtschenko, sind kaum zu übersehen. Im Wahlquartier von Poroschenko, drei Kilometer entfernt vom Stab Selenskyjs in einem Nachtclub, herrscht dagegen Stille, aber keine Schockstarre. Zwar hat der 53-Jährige nach dem enttäuschenden Ergebnis im ersten Wahlgang vor drei Wochen hart um die Wiederwahl gekämpft. Er trat immer wieder in Talkshows auf, gab massenhaft Interviews und stimmte sogar der Austragung eines Fernsehduells in der größten Fußballarena des Landes zu. Jedoch wusste man in seinem Wahlteam, dass der Vorsprung Selenskyjs nur noch durch ein Wunder aufzuholen gewesen wäre. Spätestens, als der Fraktionschef vom Block Poroschenka im Parlament im Laufe des Tages andeutete, man würde jedes Wahlergebnis akzeptieren, wurde allen klar: Poroschenko gibt seine Niederlage zu.

Eine Viertelstunde nach der Verkündung der Hochrechnungen erscheint Poroschenko in seinem Wahlquartier - und gibt eine diplomatische Kampfrede. »Ich werde das Präsidialamt im nächsten Monat räumen«, sagt er. »Aber ich verlasse nicht die Politik. Ich werde für die Ukraine kämpfen - für den Erhalt aller unserer Errungenschaften.« Damit meint er nicht nur die Annäherung an die EU und das visafreie Reisen in die Länder des Schengen-Raums, sondern auch seine national orientierte Agenda unter dem Slogan »Armee! Sprachen! Glauben!«, die nur in den westlichsten Regionen Landes gut ankam, dem Präsidenten aber eine kleine, treue persönliche Anhängerschaft verschaffte.

Poroschenko will seinem Gegner Selenskyj helfen, sich in der Präsidialverwaltung einzuarbeiten. Danach will er aber eine starke Opposition gegen den neuen Präsidenten anführen, auch im Hinblick auf die anstehenden Parlamentswahlen, die voraussichtlich im Oktober stattfinden werden.

Viel Zeit, um sich zu entspannen, hat Selenskyj, dem Bundeskanzlerin Angela Merkel per Telegramm am Montag gratulierte und ihn nach Berlin einlud, nicht. Wegen seines hohen Ergebnisses wird er besonders unter Druck stehen und schnell Erfolge liefern müssen. Das wird allerdings angesichts der Architektur der ukrainischen Politik schwer. In dem semipräsidentiellen Machtsystem ist das Parlament enorm wichtig, Selenskyjs Partei »Diener des Volkes« ist in der aktuellen Werchowna Rada jedoch noch nicht vertreten. Dass sich eine Reihe von aktuellen Abgeordneten hinter dem neuen Präsidenten vereint, ist gesetzt, doch es wird schwer, an eine Mehrheit in der Rada zu kommen. Ohne die Zustimmung des Parlaments kann Präsident Selenskyj weder einen neuen Außenminister noch einen neuen Generalstaatsanwalt einstellen, was der 41-Jährige seinen Ankündigungen zufolge gerne machen will.

Und wenn es bis zur Parlamentswahl im Herbst keine Fortschritte in der Implementierung seines Wahlprogramms gibt - das direkte Demokratie, den harten Korruptionskampf und Wirtschaftsliberalisierung verspricht -, können die aktuellen Umfragewerte, die die Partei »Diener des Volkes« auf dem ersten Rang sehen, schnell nach unten gehen. In der Kiewer Politik also beginnt zweifellos eine turbulente Ära, die auch im Hinblick auf den andauernden Krieg in der ostukrainischen Donbass-Region spannend ist. Selenskyj hatte zuvor angekündigt, auch direkte Verhandlungen mit Russland über die Zukunft des umkämpften Gebietes, in dem Moskau prorussische Separatisten unterstützt, führen zu wollen. Nach einer Änderung des Status quo sieht es derzeit aber nicht aus.

»Wir bleiben dem Normandie-Format (in dem Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine vertreten sind, Anm. d. Red.) und dem Minsker Friedensabkommen treu. Wir wollen aber dem Prozess einen neuen Schub geben«, sagt Selenskyj. Er ist als Befürworter einer Erweiterung des Normandie-Formats um Großbritannien und die USA bekannt - einer Option, die weder in Berlin und Paris noch in Moskau mit Begeisterung wahrgenommen wird. Mit Bezug auf Russland meint Selenskyj, seine Hauptaufgabe sei es, politische Gefangene, vor allem ukrainische Seesoldaten, die nach dem Vorfall vor der Straße von Kertsch im letzten Jahr im russischen Gefängnis sitzen, so schnell wie möglich in die Ukraine zurückzuholen.

Es gibt aber auch eine andere Botschaft, die sowohl an Moskau als auch an andere Länder des postsowjetischen Raums gerichtet ist: »Schaut mal her, alles ist möglich.« Dies ist ein dickes Lob an die ukrainische Demokratie seitens Selenskyjs. Ob diese stark genug für einen Komiker ohne politische Erfahrung ist, wird sich alsbald zeigen.

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