Berlin kann Eigenbedarf begrenzen

Der Mietrechtsanwalt Henrik Solf hält Einschränkungen für Eigenbedarfskündigungen in Härtefällen für möglich

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 4 Min.

In Berlin wird immer mehr Menschen wegen Eigenbedarf gekündigt. Oder täuscht der Eindruck?

Nein, der täuscht nicht, das ist auf alle Fälle so. Wobei Eigenbedarfskündigungen etwa seit Anfang der 2000er Jahre drastisch zugenommen haben und seit ein paar Jahren kontinuierlich hoch sind. Das hat damit zu tun, dass der Markt für Wohnungseigentum praktisch leer gefegt ist und man am einfachsten noch Wohnungen bekommt, die bewohnt sind. Und dann hat man das Problem, die Mieter rauszubekommen.

Zur Person
Henrik Solf ist seit 1996 als Rechtsanwalt tätig. Er arbeitet als Fachanwalt- für Miet- und Wohnungseigentumsrecht im Prenzlauer Berg und hat sich einen Namen als Verteidiger von Mieterinteressen gemacht. Solf ist Mitglied im Arbeitskreis Mietrecht des Republikanischen Anwälte- und Anwältinnenvereins. Mit dem Juristen sprach für »nd« Johanna Treblin.

Das heißt, es sind eher neue Eigentümer, die Mietern kündigen?

Eher würde ich nicht sagen. Aber es ist schon ein Phänomen, dass gekauft und gleich danach gekündigt wird.

Weil Eltern ihren Kindern eine Wohnung kaufen und den bisherigen Mietern kündigen, statt selbst eine teure Wohnung anzumieten.

Freundlich kann man das so formulieren. Letztendlich sind Vermieter ja auch Menschen, die irgendwo leben müssen. Nur haben sie eben das Geld, sich eine Wohnung kaufen und die Bewohner rausklagen zu können. Und die meisten Mieter haben diese Möglichkeit nicht.

Andererseits: Es lohnt sich, Mieter rauszuwerfen, die seit 40 Jahren in der gleichen Wohnung wohnen - weil man bei einer Neuvermietung das Doppelte verlangen kann.

Es gibt natürlich den vorgetäuschten Eigenbedarf. Aber ich unterstelle mal, dass Eigenbedarf in der Regel stimmt.

Gibt es Missbrauch im großen Stil?

Im großem Stil? Das weiß ich nicht. In Einzelfällen gibt es schon immer wieder Hinweise auf Missbrauch. Aber der ist meistens extrem schwer nachweisbar. Zum Beispiel kann ich für meinen Sohn Eigenbedarf anmelden, weil er in Berlin studieren will. Dann geht es vor Gericht, weil der Eigenbedarf angezweifelt wird, und nach anderthalb Jahren Prozess hat der Sohn geheiratet und will jetzt in Köln leben. Ob er tatsächlich ursprünglich in Berlin leben wollte oder das von Anfang an nur vorgetäuscht war, lässt sich nicht nachvollziehen. Wir können ja nicht in die Leute reingucken.

Wenn ein Eigentümer eine freie Wohnung im zweiten Stock hat, kann er dem Mieter im dritten Stock trotzdem kündigen, um selbst einzuziehen?

Wenn tatsächlich eine vergleichbare Wohnung frei ist, besteht schon erheblicher Erklärungsbedarf. Aber in der Regel sind das keine vergleichbaren Wohnungen. Die andere ist kleiner, liegt im Hinterhaus, hat keinen Balkon, man kann sie nicht mit dem Dachgeschoss verbinden. Früher musste immerhin der Vermieter dem Mieter jede beliebige freie Alternativwohnung anbieten - bei marktüblicher Miete. Wenn keine Alternative angeboten wurde, war die Kündigung unwirksam. Vor gut zwei Jahren hat der Bundesgerichtshof aber seine Rechtsprechung geändert. Seitdem ist die Kündigung in einem solchen Fall nicht mehr unwirksam. Mieter haben jetzt nur noch Schadenersatzansprüche.

Die Mieten steigen, der Eigenbedarf wird immer häufiger angewandt, und statt die Mieter zu schützen, verschärft der Bundesgerichtshof die Rechtsprechung?

Um es mal ganz klar zu sagen: Das, was der Bundesgerichtshof in den vergangenen 15 Jahren angerichtet hat, ist dramatisch. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Bundesgerichtshof durch seine Rechtsprechung zur aktuell so schwierigen Wohnungsmarktsituation wesentlich beigetragen hat. Er hat die Gesetze komplett ihres sozialen Hintergrundes entkleidet. Er schaut in den Gesetzestext, sieht nur, was wortwörtlich drin steht und fragt nicht mehr wie früher nach dem Kontext. Da müsste der Gesetzgeber ran und sagen: Nein, das hatten wir aber anders gemeint. Der hat die verschärfte Rechtsprechung aber einfach hingenommen.

Die Politik hat immer mal nachgebessert, zum Beispiel mit der Mietpreisbremse. In Berlin könnte es nun auch bald einen Mietendeckel geben.

Ja, darauf stürzen sich die Politiker gerade. Dabei besteht die Möglichkeit, die Mieten zu deckeln, schon seit über zehn Jahren. Das haben wir alle verschlafen.

Seit über zehn Jahren schon?

Ja. Die Länder sind für alles zuständig sind, wofür der Bund nicht zuständig ist. Bei der Föderalismusreform 2006 wurde die Zuständigkeit des Bundes für das Wohnungswesen gestrichen. Seitdem könnten die Länder also das Mietpreisrecht regeln. Das überlegt Berlin gerade. Die gleiche Argumentation - und das ist der neue heiße Scheiß - lässt sich vielleicht auch auf den Eigenbedarf anwenden. Das heißt: Die Bundesländer könnten womöglich auch den Eigenbedarf einschränken.

Und wie?

Man könnte Eigenbedarfskündigungen in Härtefällen verbieten. Und dann sagt man beispielsweise, als Härtefall gilt, wenn mindestens ein Mieter über 60 Jahre alt ist oder länger als zwanzig Jahre in der Wohnung wohnt. Das ist eine Frage der Definition. Die Landeskompetenz darf jedenfalls nicht beim Mietendeckel aufhören. Der Mietendeckel muss der Anfang sein und nicht das Ende.

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