Pilotabschluss im Einzelhandel

In Nordrhein-Westfalen bekommen Verkäuferinnen drei Prozent mehr - verbindlich ist das nur für eine Minderheit

Der Tarifkonflikt im Einzelhandel ist in einem ersten Bundesland beigelegt: In Nordrhein-Westfalen bekommen Hunderttausende Verkäuferinnen und Verkäufer ab diesem Monat drei Prozent mehr Geld. Beschäftigte in höheren Entgeltgruppen erhalten diese prozentuale Steigerung nicht, sondern eine Pauschale von 77,50 Euro. Zum 1. Mai 2020 gibt es dann für alle ein weiteres Plus von 1,8 Prozent. »Damit konnten wir erstmals für die unteren Entgeltgruppen leicht überproportionale Erhöhungen erreichen«, erläuterte ver.di-Verhandlungsführerin Silke Zimmer. Der bundesweit erste Abschluss in dieser Tarifrunde dürfte als Vorbild für die anderen Tarifbezirke dienen.

Allein in Nordrhein-Westfalen sind rund 700 000 Menschen im Einzelhandel beschäftigt. Die Mehrzahl von ihnen arbeitet allerdings in Unternehmen, die nicht tarifgebunden sind - ein Problem, das die gesamte Branche betrifft. Doch orientierten sich auch viele dieser Unternehmen an den Tarifabschlüssen, hieß es bei ver.di. Die Arbeitgeberseite war mit lediglich 1,5 Prozent für 2019 und einem Prozent ab 2020 in die Verhandlungen gestartet. Das hätte wegen der Inflation sogar eine Reallohnsenkung bedeutet. Die Gewerkschaft, die 6,5 Prozent mehr Lohn forderte, quittierte das Angebot mit Streiks in zahlreichen Betrieben. In Nordrhein-Westfalen beteiligten sich mehrfach einige Tausend Beschäftigte.

Ein kräftiger Lohnzuwachs ist für sie besonders wichtig. 80 Prozent der bundesweit rund drei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel sind Verkäuferinnen und Verkäufer in der Gehaltsgruppe 1. Im letzten Berufsjahr verdienen sie bislang nach Angaben der Gewerkschaft in den meisten Bundesländern 2579 Euro brutto. Davon bleiben in der Steuerklasse I gerade einmal 1710 Euro netto. Viele haben noch deutlich weniger: Denn nur etwas über ein Drittel der Beschäftigten arbeitet wirklich Vollzeit, der Rest in Teilzeit, davon Hunderttausende als geringfügig Beschäftigte, wie aus einer Kleinen Anfrage der Linksfraktion hervorging. Fast eine Million - fast jeder dritte - Beschäftigte ist demnach ein Niedrigverdiener. In den neuen Bundesländern ist es fast die Hälfte. Zehntausende müssen aufstocken, um über die Runden zu kommen, zuletzt war die Zahl gestiegen, im Gegensatz zum Trend in der Gesamtwirtschaft. Das kostet den Staat nach Angaben von ver.di pro Jahr 1,4 Milliarden Euro.

In den letzten Tarifrunden mussten sich Verkäuferinnen mit mageren Abschlüssen zufrieden geben. Diesmal wollte die Gewerkschaft deshalb auf jeden Fall mindestens drei Prozent herausholen. »Überproportional« werden laut ver.di auch die Vergütungen von Azubis erhöht: Sie steigen zwischen 45 und 60 Euro zu Beginn des Ausbildungsjahres 2019 und zwischen 50 und 80 Euro zu Beginn des Ausbildungsjahres 2020. Die Laufzeit des Tarifvertrages beträgt 24 Monate.

In einem anderen zentralen Punkt hat ver.di allerdings wieder nichts erreicht. So weigert sich die Arbeitgeberseite weiterhin, die Allgemeinverbindlichkeit für den Tarifvertrag zu beantragen. Damit wäre er verpflichtend für alle Einzelhändler in Nordrhein-Westfalen geworden, bis Ende 1999 war dieser Schritt in der Branche völlig normal. Inzwischen haben jedoch nur noch 23 Prozent der Betriebe im Einzelhandel einen Branchentarifvertrag.

Die Gewerkschaft hofft daher auf politische Unterstützung. Im Mai hat der Bundesrat mit einem Entschließungsantrag die Bundesregierung aufgefordert, gemeinsam mit den Ländern Strategien zur Stärkung des Tarifsystems zu suchen und dabei insbesondere auf nötige Erleichterungen bei der Allgemeinverbindlichkeit hingewiesen.

Im Rest der Republik gehen die Tarifverhandlungen in den nächsten Wochen weiter. Sollte es dabei nochmals zu Warnstreiks kommen, dürfen sich Beschäftigte von Karstadt-Warenhäusern allerdings nicht mehr beteiligen. Das Karstadt-Management hat in der vergangenen Woche gerichtlich ein Streikverbot erwirkt. Es ist eine neue Eskalationsstufe in der Auseinandersetzung um die angeschlagene Kaufhauskette. Laut ver.di hätten die Karstadt-Beschäftigten in der letzten Tarifrunde 2017 mitgestreikt, ohne dass jemand Anstoß genommen hätte. Das sei bislang »unstrittig« gewesen, auch während der Laufzeit des in ihrem Haus geltenden Zukunftstarifvertrages. Für die ab 2021 versprochene Rückkehr in den Flächentarifvertrag ist das Vorgehen aus Sicht der Gewerkschaft kein gutes Zeichen. Den Beschäftigten »soll wohl dauerhaft in die Taschen gegriffen werden«, fürchtet Stefanie Nutzenberger, im Vorstand von ver.di für den Handel zuständig. Die Gewerkschaft will gegen das vom Berliner Arbeitsgericht ausgesprochene Verbot nun juristisch vorgehen.

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