»Der Abschuss ist ein Resultat des Krieges«

Nach Politikwissenschaftler Kees Van Der Pijl haben die Ermittlungen im Fall MH17 eine anti-russische Stoßrichtung

  • Felix Jaitner
  • Lesedauer: 5 Min.

Herr Van der Pijl rund fünf Jahre nach dem Abschuss der malaysischen Passagiermaschine MH17 über der Ostukraine hat das internationale Ermittlerteam (JIT) Haftbefehle gegen vier mutmaßliche Täter wegen Mordes ausgestellt. Ist damit der Abschuss des Flugzeugs aufgeklärt?

Nein, es gibt keine seriöse Ermittlungen, das ist eine Farce. Malaysia, Mitglied des JIT, hat sich von den Ermittlungsergebnissen distanziert. Ministerpräsident Mahathir kritisierte, die eigentliche Stoßrichtung sei immer gewesen, Russland zu verdächtigen. Belgien, ein weiteres Mitglied des JIT, schweigt und hat sogar den Vorschlag gemacht, Russland wieder in den Europarat aufzunehmen. Bleiben nur die Niederlande und Australien - und Kiew, das nicht als vollwertiges Mitglied zählen kann, da es als einer der potenziellen Täter direkt am JIT beteiligt ist.

Zur Person

Kees van der Pijl ist emeritierter Professor für internationale Beziehungen an der Universität von Sussex. Seine Forschungsschwerpunkte sind internationale politische Ökonomie und transnationale Klassenbildungsprozesse.

In seinem Buch »Der Abschuss. Flug MH17, die Ukraine und der neue kalte Krieg« analysiert er den geopolitischen und ökonomischen Kontext eines neuen Kalten Kriegs zwischen der EU und der NATO einerseits sowie Russland andererseits.

Welchen Standpunkt vertreten diese Länder?

Sie sind von Anfang an dem NATO-Standpunkt gefolgt, wonach die ostukrainischen Separatisten das Flugzeug mit einer BUK-Rakete abgeschossen haben. Während der Ermittlungen sind Sachverständige aus Australien und den Niederlanden von der offiziellen Linie abgewichen. Aber letztlich ist das JIT immer auf die NATO-Linie eingeschwenkt und hat sogar die Befunde des Recherchenetzwerks Bellingcat übernommen, obwohl es zuerst die Position vertreten hat, diese würden für die eigentlichen Strafermittlungen keine Rolle spielen.

Sie haben ein Buch zum Komplex MH17 geschrieben. Warum?

Ich habe mich mit der Gruppe OorlogisGeenOplossing (Krieg ist keine Lösung) an der NEIN-Kampagne im niederländischen Referendum über die Ratifizierung des EU-Assoziierungsvertrags mit der Ukraine im April 2016 beteiligt. In Holland war die öffentliche Debatte damals völlig von der MH17-Katastrophe dominiert. Schon damals dachte ich, dass es sich um mehr als »nur« ein Flugzeugunglück handelt. Der Abschuss ist ein Resultat des Kriegs in der Ukraine. Auch aus diesem Grund habe ich den größten Teil des Buches diesem Kontext gewidmet. Ohne die Vorgeschichte wissen wir nicht, wo die Motivation der Akteure herkommt, welche Kräfte überhaupt im Spiel sind und welche Macht sie haben.

Warum ist das im Fall MH17 so wichtig?

Bei der Machtübernahme im Februar 2014 waren nicht alle in der ukrainischen Regierung Faschisten, aber es waren doch einige darunter. Der Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrats Andrij Parubij, Innenminister Arsen Awakow und sein Sprecher Anton Geraschtschenko, das sind Leute, die zu allem bereit sind.

Dennoch sollte man die andere Seite nicht idealisieren. Russland ist eine konservative Gesellschaft, in der es zu einer Stärkung der Religion und sozialkonservativer Politik kommt. Auch auf russischer Seite kämpfen nationalistische, extrem rechte Kräfte. Ich sage das nicht, um eine Seite zu diskreditieren, sondern um nicht mit einem naiven Idealismus an eine komplexe Sachlage heranzugehen. Und meine Methode, sich anzuschauen, welche Kräfte dort aktiv waren, dient auch dazu, nicht in ein Gut-gegen-schlecht-Schema zu verfallen.

Sie ordnen die Ermittlungen um MH17 in einen größeren geopolitischen Konflikt ein. Wer steht sich dort gegenüber?

Der russische imperiale Block ist eingebettet in das Schwellenländerbündnis BRICS aus Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika. Das sind ursprünglich keine Freunde, aber aufgrund des westlichen Drucks hat sich aus den BRICS ein Block gebildet. Dabei wollen die nichts lieber, als Mitglieder der westlich-liberalen Weltordnung werden. Aber diese ist keine ideelle Organisation, sondern eine Machtorganisation des westlichen Kapitals, das die anderen Länder ausplündern will, genauso wie Russland unter Jelzin vom Westen und den lokalen Oligarchen, die sich mit dem Westen verbunden haben, ausgeplündert worden ist. Es ist auch ein Konflikt verschiedener Arten kapitalistischer Organisation: Großkonzerne und finanzgetriebene Organisationen im Westen und staatlich gelenkte Organisationen in den BRICS.

Zurück zum Fall MH17: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Russland wenig dazu beigetragen hat, die bestehenden Verdachtsmomente zu entkräften.

In dem Propagandakrieg, der MH17 umgibt, sieht man, dass der Westen eine Linie verfolgt, ohne davon abzuweichen. Von russischer Seite sind zehn bis zwölf Abschusstheorien vorgeschlagen worden. Das Problem ist: Regierungen haben oft kein Interesse daran, historische Wahrheiten zu finden. Putin und sein Zirkel sind an der Macht, weil sie andere Prioritäten haben und für Leute, die Bücher schreiben, ist das oft schwer zu verstehen.

Es hat auch Erklärungen des Herstellers der BUK-Raketen, Almas-Antej, gegeben, in denen es hieß, die Flugzeugtrümmer hätten ganz andere Merkmale als nach einem Beschuss durch BUK-Raketen. Aber die waren überschattet vom kommerziellen Interesse des Konzerns, ihre Waffensysteme zu verkaufen.

Haben Sie eine Vermutung, was tatsächlich passiert ist?

Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich weiß, dass es verschiedene Leute gibt, die bereit sind, ihre alternativen Rechercheergebnisse auf den Tisch zu legen. Die größtmögliche Wahrscheinlichkeit ist, dass die Ukraine gemeinsam mit der NATO das Flugzeug abgeschossen haben. Die Tragödie des JIT ist, dass es die Möglichkeit hätte, dies herauszufinden. Aber genau das wird nicht gemacht, weil die Ermittler einen klaren Auftrag haben: zu zeigen, dass Russland hinter dem Abschuss steckt. Deshalb wird so viel spekuliert.

In Berlin wurde am Dienstag ihr Buch vorgestellt. Die Veranstaltungsorganisation »Global Rights of Peaceful People« gilt als pro-russisch. Haben Sie Sorge vor Vereinnahmung?

Ich habe ein Interview für den holländischen »Telegraaf« gegeben, die Zeitung ist vergleichbar mit der »Bild« in Deutschland. Der Journalist, ein junger Mann, entschuldigte sich gleich zu Beginn des Gesprächs und sagte, er habe den Auftrag der Redaktion, mich im Artikel als einen Menschen zu charakterisieren, der russischer ist als der Kreml. Darüber kann ich nur lachen. Ich bin für Entspannung und ich fürchte einen großen Konflikt in Europa. Das ist meine einzige Motivation. Wenn nun eine Organisation wie »Global Rights of Peaceful People« mich einlädt, dann sicher nicht, weil ich den NATO-Standpunkt teile. Mir ist es wichtig, mein Buch in die Öffentlichkeit zu bringen. Ob Leute sagen, ich sei ein nützlicher Idiot oder Putin-Liebhaber, interessiert mich nicht.

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