Selenskyj vor der Machtübernahme

Im Wahlkampf setzt der ukrainische Präsident immer stärker auf populistische Maßnahmen und mediale Inszenierung

  • Denis Trubetskoy, Kiew
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenige Tage vor der vorgezogenen Parlamentswahl am 21. Juli ist bereits klar: Der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird über eine Machtfülle verfügen, die kaum ein Staatsoberhaupt zuvor genießen durfte. Zwar musste der 41-jährige Ex-Komiker in den Monaten nach seinem Wahlsieg gegen Ex-Präsident Petro Poroschenko im April hart mit dem aktuellen Parlament kämpfen. Doch nun stehen andere Zeiten bevor.

Nach einer Umfrage der unabhängigen Rating Group liegt Selenskyjs Partei Diener des Volkes bei 49,5 Prozent. Das Kiewer Internationale Soziologieinstitut rechnet sogar mit über 52 Prozent. Das ist erstaunlich. Denn bis zur Präsidentschaftswahl existierte die Partei nur auf dem Papier. Zumal die Umfragewerte von Diener des Volkes vor einigen Wochen bis auf 41 Prozent nach unten gingen. Ob das prognostizierte Ergebnis für die absolute Mehrheit reicht, ist schwer zu sagen: Die Hälfte der Sitze in der Werchowna Rada sind Direktmandate und es gibt keine seriösen Studien, die alle 199 Wahlkreise abdecken.

Aktuell ist Selenskyj auf Ukraine-Tour und spricht in bemerkenswerter Manier mit Beamten in den Regionen. Viele von ihnen werden nach dem verbalen Schlagabtausch gleich entlassen. Das erinnert stark an den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko. Dass Selenskyjs Vorgehen in der Ukraine gut ankommt, ist - trotz der vielen Proteste der letzten Jahre - nicht überraschend. Schließlich ist Lukaschenko laut Studien seit vielen Jahren der mit Abstand beliebteste ausländische Politiker der Ukrainer.

Mit der Idee, das Lustrationsgesetz, das zur Entfernung für hochrangige Beamte aus der Zeit des im Laufe der Maidan-Revolution nach Russland geflohenen Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch eingeführt wurde, auf die Amtszeit seines Vorgängers Poroschenko auszuweiten, übt sich Selenskyj zudem weiter in Populismus - und macht offenbar alles richtig, denn Poroschenko bleibt seinerseits der unbeliebteste Politiker des Landes. Ob eine völlig neue Partei ohne aktive ehemalige Abgeordnete in der Lage ist, konstruktiv zu arbeiten, ist dennoch fraglich.

Ein ukrainischer Macron
Der Soziologe Wladimir Ischtschenko über den Selenskyj-Faktor und die bevorstehenden Parlamentswahlen

»Wir werden eine funktionierende und erfolgreiche Regierung bilden«, verspricht Parteichef Dmytro Rasumkow. In der Tat wird derzeit in Kiew über fünf mögliche Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt gesprochen, fast alle gelten dabei als Technokraten aus der Wirtschaft. Ob das aber mit der Politshow des Präsidenten Selenskyj zusammenpasst, ist zumindest zweifelhaft.

Darüber hinaus bleibt es laut Umfragen dabei, dass die prorussische »Oppositionsplattform - Für das Leben« klar den zweiten Rang belegen wird. Allerdings hat die Partei des engen Putin-Freundes Wiktor Medwedtschuk ein paar Prozentpunkte verloren und kommt laut der Rating Group auf 10,5 Prozent. Das hängt womöglich damit zusammen, dass Kiew unter Selenskyj durch den Truppenabzug nahe der Kleinstadt Stanyzja Luhanska an der Frontlinie es doch mit der Erfüllung des Minsker Friedensabkommens für den Donbass-Krieg versucht - und die Stammwählerschaft der »Oppositionsplattform« stammt größtenteils aus der umkämpften Region.

Die politischen Veteranen, Petro Poroschenko mit seiner erneuerten Partei »Europäische Solidarität« und die zweifache Premierministerin Julia Timoschenko (»Vaterland«), sollten es in das neue Parlament schaffen, werden aber jeweils nur einer kleinen Fraktion vorstehen. Die Umfragewerte der nationalliberalen Partei »Stimme« des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk, die vor allem mit Poroschenkos Wählerschaft in der Westukraine konkurriert, sanken zuletzt - der Nichteinzug wäre für Wakartschuk, der mit Konzerten seiner Band »Okean Elsy« für die Partei wirbt, sehr schmerzhaft, denn der Einzug in die neue Rada galt lange als sicher.

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