Der entzauberte Johnson

Im Streit um den Brexit taktieren der Premierminister und die Opposition

  • Ian King, London
  • Lesedauer: 3 Min.

Der strahlende Held BoJo sollte für seine unter Theresa May demoralisierte Konservative Partei alles wieder ins Lot bringen. Den Europäern das Fürchten lehren, den Brexit bis zum 31. Oktober durchsetzen, Neuwahlen gewinnen, das globale Britannien einweihen und das schlechte Wetter abschaffen. Stattdessen: drei Parlamentsabstimmungen, drei Niederlagen, ein Sechstel der Fraktion ist ihm abhanden gekommen, darunter zwei Ex-Finanzminster, Philip Hammond und Ken Clarke, sowie Nicholas Soames, Enkel von Winston Churchill. »Kein guter Start, Boris«, wie ein Labour-Abgeordneter dem Premier im Unterhaus zurief.

Konkret: Am Dienstag verlor Johnson den Abgeordneten Phillip Lee an die Liberalen und warf 21 weitere Tories aus der Fraktion, die ihm den parlamentarischen Terminkalender und damit das Gesetz des Handelns im Einklang mit den Oppositionsparteien aus den Händen gerissen hatten. Am Mittwoch setzte die dadurch entstandene neue Unterhausmehrheit eine vom Labour-Abgeordneten Hilary Benn eingebrachte Gesetzesvorlage durch, die einen unordentlichen EU-Austritt Ende Oktober ohne Übergangsperiode für die britische Wirtschaft verbietet. Zuerst wollte Johnson das Gesetz im nichtgewählten Oberhaus durch Dazwischenschalten von hundert anderen Gesetzesvorlagen torpedieren, darunter eine über den Schutz von Fledermäusen. Um 1.30 Uhr am Donnerstag morgen gab er jedoch den Versuch auf, um nicht noch lächerlicher auszusehen.

Jetzt könnte Johnson theoretisch dem Parlament einen mit der EU auszuhandelnden neuen Deal zur Abstimmung anbieten. Hier gibt’s aber ein Problem: Trotz gegenteiliger Behauptungen des Premiers finden nicht einmal Gespräche mit EU-Vertretern statt, ein Einknicken der 27 beim Gipfel am 17. Oktober ist daher sehr unwahrscheinlich. Oder Johnson könnte den von der Vorgängerin Theresa May mit der EU ausgehandelten Deal aus der Mottenkiste holen, obwohl er zweimal dagegen, aber einmal dafür gestimmt hat. Da würde jedoch sein rechtes Brexit-Kabinett über den Status der irischen Grenze Zeter und Mordio schreien. Als letzte Rettung für den vom Parlament Verschmähten bleiben nur Neuwahlen. Die wollte Johnson in einer weiteren Abstimmung durchsetzen.

Aber das von seinem Vorvorgänger David Cameron 2011 durchgepeitschte Fixed Term Parliament Act sieht feste fünfjährige Legislaturperioden vor und verlangt vor Neuwahlen eine Zweidrittelmehrheit im Unterhaus - während Johnson nicht einmal mit Hilfe der nordirischen Alliierten von den Democratic Unionists eine einfache Mehrheit besitzt. Labour, Liberale und Nationalisten aus Schottland und Wales verweigerten dem Premier ihre Unterstützung, mit 298 von 651 Stimmen verlor Johnson wieder kläglich. Erst müsse das Verbotsgesetz gegen den »No Deal-Brexit« in Kraft treten, das Johnson ohne Parlamentsabkommen verpflichten würde, Brüssel um eine weitere Verlängerung der Austrittsfrist bis Ende Januar zu bitten. Dann könnte man über Neuwahlen sprechen, so Labours Jeremy Corbyn. Daher, und nicht etwa aus neuer Einsicht, hat Johnson den geplanten Widerstand im Oberhaus aufgegeben.

Da Labour in den Umfragen zur Zeit etwa zehn Prozentpunkte hinter den Tories hinkt, hätte die größte Oppositionspartei kein Interesse an einem sofortigen Urnengang, vom Verhindern des Brexit ganz zu schweigen. Corbyn könnte also der Neuwahlversuchung auch nach Verabschiedung des Benn-Gesetzes gegen »No Deal« widerstehen: Johnson wäre damit trotz vollmundiger Versprechungen am pünktlichen EU-Austritt gehindert und hätte zusätzlich mit dem hämischen Widerstand von Nigel Farages rechter, noch rabiaterer, Brexit-Partei zu kämpfen. Labour könnte Johnson ein paar Wochen lang als parlamentarischen Hampelmann aussehen lassen. schließlich hing er schon 2012 zum Auftakt der Londoner Olympiade minutenlang hilflos an einem Drahtseil. Und am heutigen Donnerstag hat ein weiterer konservativer Minister als Brexit-Skeptiker die Regierung verlassen und will bei einer Neuwahl nicht kandidieren: Jo Johnson, jüngerer Bruder des Premiers.

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