Wahlen, an die keiner glaubt

Am Sonntag wählt Tunesien einen neuen Präsidenten.

  • Philip Malzahn
  • Lesedauer: 4 Min.

Aufgestellt sind 24 Kandidaten, darunter zwei Frauen: Wenn am Sonntag die Bevölkerung Tunesiens einen neuen Präsidenten wählt, kann es der internationalen Aufmerksamkeit sicher sein. Denn Tunesien ist nicht nur die einzige Demokratie der arabischen Welt, sondern war auch Ausgangspunkt des so genannten Arabischen Frühlings. Vor Ort ist man weniger euphorisch - zu groß ist das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Politik. Für viele Tunesier ist es eine Wahl zwischen schlecht und übel: Antreten wird politisch gesehen zwar ein breites Spektrum an Kandidaten, von Säkularen bis hinzu den Islamisten, doch die Skepsis sitzt tief und wird längst nicht nur von Religionsfragen genährt.

Im Dezember 2010 zündete der sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi vor einem Regierungsgebäude in der Kreisstadt Sidi Bouzid an und trat damit eine Protestwelle los, die sich durch die gesamte arabische Welt zog. Während das Nachbarland Libyen und Syrien im Bürgerkrieg versanken und in Ägypten das Militär die Macht übernahm, schaffte Tunesien den Umbruch in die Demokratie. Doch die, so einzigartig sie in der Region auch sein mag, weist erhebliche Mängel auf.

Der Staatsapparat ist korrupt. Große Teile von Verwaltung und Polizei werden von denen beherrscht, die schon unter Diktator Ben Ali das Sagen hatten. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, vor allem unter jungen Leuten und im strukturschwachen Süden. Wer in Tunesien erfolgreich sein will, muss jemanden kennen, oder sich totarbeiten. Kurz gesagt: Die Lage im Land unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht nicht allzu sehr vom Dezember 2010.

Die Umstände der anstehenden Wahlen sind bezeichnend für die Lage im Land. Zum ersten Mal in der Geschichte der arabischen Welt gab es eine im Fernsehen übertragene Wahlkampfdebatte. Auf über 25 Kanälen konnten die Tunesier die Kandidaten näher kennenlernen. In einer Liveübertragung, die sogar in den Nachbarländern Algerien und Libyen ausgestrahlt wurde, stellten sie sich den Fragen zweier Journalisten. Diese Gelegenheit versuchten viele Kandidaten zu nutzen, um Misstrauen aus dem Weg zu schaffen: Die Islamisten zum Beispiel warben für eine Demokratie, die alle Bevölkerungsteile gleichberechtigt. Doch so richtig glauben wollen ihnen das in Tunesien nur ihre Anhänger.

Zwischen Mandela und Berlusconi

Skurrilerweise bei der Debatte nicht mit dabei: der aussichtsreichste Kandidat. Nabil Karoui, Geschäftsmann und Medienmogul, sitzt zurzeit im Gefängnis. Er wurde etwa drei Wochen vor dem Wahltag am 15. September verhaftet. Der Vorwurf: Steuerhinterziehung und Geldwäsche. Dass die Verhaftung einen politischen Hintergrund hat, ist offensichtlich. Um gegen seine Inhaftierung zu protestieren, ist er am 12. September in den Hungerstreik getreten.

Steuerhinterziehung ist in Tunesien ein übliches Vergehen. Vom Taxifahrer bis zum Politiker - in dem Elf-Millionen-Einwohner-Land zahlt kaum jemand seine Abgaben mit akribischer Genauigkeit. Karouis Anhänger vermuten hinter der Inhaftierung den ebenfalls kandidierenden und amtierenden Ministerpräsident, Youssef Chahed, dem es an Karouis Charisma mangelt und der die Verhaftung lautstark als Sieg des Rechtsstaats begrüßte. Chahed hatte sich erst in diesem Jahr, nach Streitigkeiten mit dem kürzlich verstorbenen Präsidenten Essebsi, von der Regierungspartei Nidaa Tounes getrennt und seine eigene Partei, Tahia Tounes, gegründet. Mit dieser will er sich als Erfolgsbringer inszenieren, doch die Bilanz seiner Regierungszeit sieht schlecht aus: Die Inflationsrate liegt bei etwa sieben Prozent, und die tunesische Währung Dinar hat fast 40 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Euro eingebüßt.

Der erfolgreiche Geschäftsmann Karoui hingegen, der sich noch nie politisch behaupten musste, wird von seinen Anhängern als »Mandela Tunesiens« gefeiert. Seine Kritiker wiederum nennen den Mann, dem der größte private Fernsehsender, Nessma TV, gehört, den »tunesischen Berlusconi«. Durch Wohltätigkeitsarbeit wie etwa Spendenkampagnen oder das Gründen von Stiftungen, aber auch durch die Selbstinszenierung auf dem eigenen Medienkanal, hat er versucht, sich bei der armen Bevölkerung Popularität zu verschaffen. Mit Erfolg: Laut aktuellen Umfragen liegt er bei 30 Prozent.

Zu den weiteren Kandidaten, denen Erfolgschancen zugerechnet werden, gehören der Verfassungsrechtler Kais Said, der linksliberale Moncef Marzouki, der nach dem Sturz Ben Alis als Interimspräsident das Land in der Übergangsphase bis 2014 führte, Abdelfattah Morou, von der islamistischen Partei Ennahda und die Anwältin Abir Moussi, einst Generalsekretärin der Regierungspartei Ben Alis. Sollte bei der Wahl am Sonntag kein Kandidat eine absolute Mehrheit gewinnen, kommt es im Oktober zu einer Stichwahl zwischen den beiden führenden Kandidaten.

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