Der mit den Häftlingen duscht

Juan Moreno hat das »System Relotius« entlarvt und ein Buch darüber geschrieben.

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist der Abend des 3. Dezember 2018, der Journalist Claas Relotius wird mit dem Reporterpreis ausgezeichnet. Schnitt. Lange nach dem Dezemberabend sitzt der Reporter Juan Moreno vor dem Computer und schaut sich Videos von der Verleihung an. Schnitt. Eine E-Mail wird eingeblendet. Sie ist von einer Frau, die der Arizona Border Recon, einer paramilitärischen Truppe, angehört. Kamerafahrt auf Moreno, der am Computer »Arizona Border Recon« in die Maske einer nicht näher spezifizierten Suchmaschine (weil deutsche Produktion) eingibt.

Schnitt. Wieder der Abend des 3. Dezember. 400 Gäste sitzen im Tipi am Kanzleramt. Es spricht Ronan Farrow, der den Filmproduzenten Harvey Weinstein mit seinen Enthüllungen zu Fall brachte und die MeToo-Debatte auslöste. Schnitt. Juan Moreno immer noch am Computer. Erste Ergebnisse seiner Suche ergeben: Da ist etwas faul. Schnitt ins Tipi am Kanzleramt. Relotius, dunkles Jackett, schmal geschnittene Hose und grobe Stiefel, nimmt den Preis entgegen. Laudatorin Ines Pohl sagt, sein Text sei »die Antwort der Branche auf die Fake-News-Debatte, auf die ›Lügenpresse-Vorwürfe‹«.

Nicht ganz so, aber fast, beginnt das Journalistenbuch des Jahres 2019: »Tausend Zeilen Lüge - Das System Relotius und der deutsche Journalismus«, geschrieben von Juan Moreno, dem Mann, der »gegen massiven Widerstand« im »Spiegel« herausfand, dass Claas Relotius »der wohl größte Hochstapler des deutschen Journalismus« war. Relotius war festangestellter Reporter des Gesellschaftsressorts des »Spiegel«, für das Moreno frei arbeitete. Gerade hatten sie zusammen eine Reportage geschrieben. Die Filmrechte an Morenos Buch sind bereits verkauft.

Um es gleich vorwegzusagen: Das Buch liest sich geschmeidig runter, hat kluge Gedanken und rehabilitiert die Branche trotz allem gegen - ich sage es mal mit Ines Pohl - die Fake-News- und Lügenpresse-Vorwürfe, die seit dem Relotius-Skandal nur noch mehr geworden sind. Es rehabilitiert die Branche allerdings vor allem: vor ihr selbst.

Allem voran mit dem 1. Kapitel, in dem Moreno den Unterschied zwischen einer Relotius-Fiktion und einer Reportage beschreibt: Es ist vor allem die Arbeit, die dahinter steckt. »Eine Recherche läuft immer anders, als man es gerne hätte. Man bekommt einfach nicht die Akte, die alles beweist, das Gespräch, das man braucht, um das Puzzle zusammenzusetzen. … Das ist die Regel … Man muss überzeugen, manchmal sogar flirten. Man schmeichelt, schreibt nette Briefe, es gibt auch Kollegen, die drohen. … Das Scheitern wie das Überzeugen kostet Kraft, Überwindung, Mut. Relotius hat sich das gespart.«

Relotius hatte immer die besten Geschichten, fand immer genau die Protagonisten, die ein ganzes System erklärten, den Jungen, dessen Graffiti den Syrienkrieg auslöste. Dass das nicht misstrauisch machte?

Und wenn man dann liest, dass Relotius es schaffte, einen Redakteur davon zu überzeugen, dass er in einem Hochsicherheitsgefängnis in den USA mit Häftlingen gemeinsam GEDUSCHT hat, ja, in Kapitalen, GEDUSCHT, und dass er dafür sogar später CNN Journalist of the Year wurde, da fragt man sich schon: Ja, sind die denn alle deppert?

Nein, nicht unbedingt, denn Relotius hatte ein System entwickelt, seine Geschichten glaubhaft erscheinen zu lassen. Zwar trieb er Ungeheures auf und verarbeitete es zu Reportagen, trat dabei aber so bescheiden wie möglich, so zweifelnd wie nötig und gerade so schmeichelnd auf, wie es noch ging, ohne eine Schleimspur hinter sich her zu ziehen. Und vor allem »recherchierte« Relotius ausschließlich im Ausland, wo es schwieriger war, seine Behauptungen zu überprüfen. Er sorgte regelmäßig dafür, dass seine Texte nicht ins Englische übersetzt wurden, und wusste einerseits lebendig, andererseits detailreich von seinen Recherchen zu berichten, sodass niemand daran zweifelte, dass er all diese Dinge wirklich erlebt hatte. Moreno lässt den Leser zusammen mit ihm langsam die Gewissheit entwickeln: Relotius ist ein Lügner. Kein armer überforderter junger Reporter, der sich unter Druck gesetzt fühlte, und dann mal hier, mal da etwas ausschmückte, sondern ein vorsätzlicher Lügner, der sich ganze Settings, ganze Protagonisten ausdachte, der statt nach Kiribati zu fliegen, sich die Zeit in Los Angelos vertrieb, der sich nebenher eine krebskranke Schwester ausdachte und am Ende möglicherweise auch noch einen Klinikaufenthalt herbeifabulierte.

Und Moreno? Erklärt ganz transparent, warum er die Aufklärung so hartnäckig verfolgte: Zum einen war - und ist - er freier Journalist, sein Name stand über dem Artikel, den er in großen Teilen für fabriziert hielt, und dieser sollte sauber bleiben. Zum anderen hatte er sich weit aus dem Fenster gelehnt, indem er dem Goldjungen des Gesellschaftsressorts des »Spiegels« überhaupt Ungereimtheiten vorgeworfen hatte. So weit, dass ihm schon angedeutet worden war, dass er keine Aufträge vom Magazin mehr bekommen würde. Das hätte ihn finanziell in Schwierigkeiten gebracht. Und schließlich sorgte er sich um das Ansehen des »Spiegel«, aber auch des Journalismus insgesamt. Und so wundert es nicht, dass Moreno im Text mehrmals behauptet, durch den Skandal sei »der Journalismus ein anderer geworden«. Ja, das Reporterforum, das jedes Jahr den Reporterpreis verleiht, den Relotius mehrmals erhalten hat, hat kürzlich angekündigt, seine Vergabekriterien zu verändern. Ja, die Geschichte hat sicherlich Moreno verändert und den »Spiegel« erschüttert. Aber bedient sich Moreno nicht selbst weiterhin der Methoden, die er in seinem Buch kritisiert? Wie ist das mit Sätzen wie »An diesem 3. Dezember … war Claas Relotius zugleich der König seiner Branche, der größte Fälscher im deutschen Journalismus und in Gedanken bei mir«? Wie passt der erste Satz vom Morenos Reportage aus Kolumbien, die am 9. September 2019 im »Spiegel« erschien (»Der Mann, der den Krieg zurück nach Kolumbien bringen will, ist ein Kerl mit Oberlippenbart, dunklen Augen und einer 9-Millimeter-Pistole im Gürtel.«), zur Läuterung des deutschsprachigen Journalismus?

Und was ändert sich für die meisten der rund 150 000 Journalisten, die in Deutschland arbeiten? Wenig. Sie arbeiten weiter wie gehabt, im besten Fall so gewissenhaft, wie es sich für den Beruf gehört. Dass sich alle Redaktionen mehr Gedanken darüber machen, wie sie Fehler vermeiden, Fake News aufdecken und Falschmeldungen entgegentreten, wie sie ihre Arbeit transparent machen, das ist nicht das Verdienst des Relotius-Skandals, sondern Ergebnis der, um sie noch einmal zu bemühen, Fake-News- und Lügenpresse-Vorwürfe der vergangenen Jahre.

Juan Moreno, Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus. Rowohlt. 2019, 288 Seiten, 18 €.

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