Anonym die Welt verändern

Politische Aktive wählen Pseudonyme und geraten damit in Erklärungsnot - zum Beispiel gegenüber Medien

  • Katharina Schwirkus
  • Lesedauer: 8 Min.

»Wenn genau beschrieben wird, wie ich, mein Körper, vergewaltigt werden soll, dann kann es nicht persönlicher werden«, sagt Tina Velo. Sie beschreibt hier die Auswüchse eines Shitstorms, von dem sie sich gerade erholt. Tina Velo heißt eigentlich anders. Mit ihrem Pseudonym hat sie dieses Jahr die Funktion der Pressesprecherin für die Kampagne »Sand im Getriebe« übernommen. Unter diesem Motto blockierten 1500 Menschen am 15. September die Internationale Automobil-Ausstellung in Frankfurt am Main. Tina Velo wurde das Gesicht der Bewegung: Anfang 30, lange braune Haare, schlank, schlagfertig. Mit dem auffallenden Nachnamen, der im Französischen und im Schweizerdeutschen »Fahrrad« bedeutet, gab sie schon im Voraus der Blockade viele Interviews.

Der Shitstorm, vor dem sich Velo immer schützen wollte, prasselte unmittelbar nach ihrer Teilnahme an einer ZDF-Talkshow von Maybrit Illner auf sie nieder. Die Sendung wurde an einem Donnerstag, wenige Tage vor den Blockadeaktionen der Umweltaktivist*innen, im ZDF live ausgestrahlt. Eingeladen wurde Velo drei Tage vor dem Sendetermin, ein Redaktionsmitglied des ZDF rief sie auf der Handynummer an, die sie als Sprecherin für »Sand im Getriebe« verwendete. »Mir war klar, dass wir die Chance nutzen müssen, in einer von Millionen Menschen gesehenen Show unsere Kritik zu äußern und zu erklären, welche Aktion wir auf der Automesse planen«, erinnert sich Velo. Sie sagte sofort zu. Bei dem Telefonat meldete sie sich als Tina Velo und ging davon aus, dass der Redaktion bekannt sei, dass es sich dabei um ein Pseudonym handelte, weil viele Medien darüber berichtet hatten.

Zunächst schien das ZDF mit dem Pseudonym kein Problem zu haben, doch als die Redaktion Velo am Mittwoch vor der Sendung erneut anrief, um das Bahnticket zur Anreise nach Berlin zu organisieren, wurde es auf einmal ein Thema. Velo berichtet gegenüber »nd«, dass sie im Laufe des Tages mehrere Male von einer Frau aus dem Redaktionsteam von Illner angerufen wurde. Die Moderatorin der Sendung würde sie wahrscheinlich ein paar Mal mit ihrem echten Namen ansprechen und er müsste auch schriftlich eingeblendet werden, »wie bei allen anderen Gästen auch«. Velo erklärte, dass ihr Pseudonym ein Schutz vor Hasskommentaren und Drohungen wie auch vor Internetrecherchen ihrer Gegner*innen sei.

Sorgfalt oder Persönlichkeitsschutz

In der Zwischenzeit erhielt Velo einen Anruf von ihrer Freundin Marion Tiemann. Diese fragte sie, ob sie ihren Auftritt bei Illner abgesagt hätte, da sie als Verkehrsexpertin der Umweltorganisation Greenpeace gerade als »Ersatz für Velo« vom ZDF angefragt worden sei. Kurz teilte Velos Ansprechpartnerin aus dem Redaktionsteam Illners mit: Sie bedauere sehr, aber wenn Velo nicht zustimme, dass der Sender ihren Klarnamen veröffentlicht, müsse sie wieder ausgeladen werden. Dass sich das ZDF bereits für einen Ersatz umguckte, erwähnte sie nicht. Stattdessen argumentierte sie mit der journalistischen Sorgfaltspflicht, die Medien müssten die Wahrheit sagen, wenn sie nicht als »Lügenpresse« diffamiert werden wollten. Zudem habe es so einen Fall in den letzten 20 Jahren nicht gegeben, es solle auch kein Präzedenzfall geschaffen werden. Für das »nd« war die zuständige Redaktion für eine Nachfrage nicht erreichbar.

Während Velo von den Diskussionen mit dem ZDF berichtet, wirkt sie angespannt. Sie nennt ihre Argumente für das Pseudonym: »Als Aktivist*innen werden wir von den Medien manchmal wie Politiker*innen behandelt.« Im Unterschied zu einer Politikerin habe sie aber keinen Stab von Mitarbeiter*innen, der sie dabei unterstützen könnte, Hassnachrichten abzufangen. Zudem mache es für Medien und Zuschauer*innen oder Leser*innen keinen Unterschied, ob sie Tina Velo oder Luise Müller hieße. Sie wolle sich mit ihrem Gesicht nicht in den Mittelpunkt stellen, sondern nur Sprachrohr der Bewegung sein.

Lesen Sie hier: »SUVs sind die Spitze des Eisbergs eines kranken Verkehrssystems« Tina Velo, Sprecherin von »Sand im Getriebe«, im Interview mit über die Proteste auf der Frankfurter Automesse.

Letztendlich stimmte Velo dem Wunsch des ZDF aber zu: Sie trat bei der Sendung mit ihrem Klarnamen auf. Weil die Zeit drängte, konnte sie kaum mit der Presse-AG von »Sand im Getriebe«, geschweige denn mit Freund*innen sprechen, um sich beraten zu lassen. Letztendlich entschied sie aus einem Bauchgefühl heraus. Noch am gleichen Abend lief ihr persönliches E-Mail-Konto mit Hassnachrichten über. »Ich habe versucht, mich auf den Hass einzustellen, indem ich mir gesagt habe: Das ist ein strukturelles Problem - allein weil ich eine junge Frau bin und mich gegen die mächtige Autoindustrie auflehne, werden mich einige Menschen hassen.« Die Masse der Hassnachrichten, die detaillierten Gewaltandrohungen und dass sie auf zahlreiche Newsletters von AfD-Ortsgruppen gesetzt wurde, überraschte Velo dann aber doch. »Wenn das Pseudonym Hass abbekommt, ist es für mich einfacher, das abzuschütteln«, erklärt sie.

Es ist kaum vorstellbar, dass sich die Redaktion von Maybrit Illner wegen Tina Velo erstmalig die Frage stellte, wann Journalist*innen über Menschen berichten können, die nicht mit ihrem echten Namen in der Öffentlichkeit stehen wollen. Die Debatte wird in allen Medienhäusern regelmäßig geführt. Auf der einen Seite gilt im Medienbetrieb das Prinzip »Sagen, was ist« - das Motto, das »Spiegel«-Gründer Rudolf Augstein seinem Blatt verpasste und das ein Grundsatz des journalistischen Arbeitens ist. Auf der anderen Seite gibt es berechtigte Ausnahmen von dieser Regel: etwa beim Opferschutz, wenn Menschen Gewalt erlebt haben. Zudem gibt es den sogenannten »Quellenschutz«, wenn Medien über Missstände berichten wollen und ihre Quellen anonymisieren, um diese vor staatlichen Repressionen zu bewahren. Beispielsweise wäre die Aufdeckung der Watergate-Affäre unter Präsident Nixon in den USA ohne Quellenschutz nicht denkbar gewesen. Was den Schutz von Menschen angeht, die sich politisch engagieren, hat sich aber noch kein Leitprinzip durchgesetzt. Lediglich in linken Verlagen ist man sich darüber einig, dass antifaschistische Aktivist*innen geschützt werden müssen, ansonsten wird das Thema aber auch hier kontrovers diskutiert. Oft wird jeweils im Einzelfall oder nach Gutdünken von Redakteur*innen entschieden.

Aufbegehren durch Verweigerung

Neben dem Schutzargument bringen politische Aktivist*innen andere Motive vor, warum sie ein Pseudonym verwenden. »Ich frage mich, warum wir so fügsam sind, uns dem Staat zu unterwerfen und unseren wahren Namen preiszugeben«, fragt Jean Peters auf die Frage zurück, warum er nicht mit dem Namen politische Arbeit macht, der in seinem Pass steht. Der heute Anfang 30-jährige Mann behauptet, als Peters 1994 das »Peng!«-Kollektiv in Berlin gegründet zu haben. »Peng!« ist durch Aktionen bekannt geworden, die sich oft am Rande dessen bewegen, was der Rechtsstaat erlaubt. Beispielsweise schmissen zwei Aktivisten, darunter Jean, 2016 eine Torte auf die AfD-Politikerin Beatrix von Storch. Unmittelbar nach dem Tortenwurf wurde Peters von mehreren AfD-Mitgliedern festgehalten und zu Boden gedrückt, einige schlugen auf ihn ein, so Peters. Dies sei die einzige physische Gewalterfahrung, die er machte.

Bereit, Verantwortung zu tragen

Per Telefon oder Fax hat Peters trotz Pseudonym bereits Hunderte Morddrohungen erhalten. Relative Anonymität schützt ihn nur bedingt vor seinen Gegnern. Seine Adresse ist aber nicht leicht zu finden. Das Schutzargument ist für Peters ohnehin zweitrangig. »Ich bin bereit, mich für meine Taten vor Gericht zu verantworten«, sagt er. Er vertraue jedoch auf den Rechtsstaat nur, »weil ich ein Mann mit weißer Hautfarbe bin, der aus der bürgerlichen Mitte kommt«. Klasse, Geschlecht und Hautfarbe seien entscheidend, wie man vom deutschen Staat behandelt wird.

Manche Menschen, die zu zivilem Ungehorsam aufrufen, entscheiden sich aber auch dafür, dies mit ihrem Klarnamen zu tun. Ein Beispiel hierfür ist Sina Reisch, Pressesprecherin von »Ende Gelände«. In der Klimaschutzbewegung steht den Aktivist*innen frei, ob sie mit einem Pseudonym oder ihrem echten Namen agieren wollen.

Reisch verwendete zunächst ein Pseudonym, seit 2018 agiert sie mit ihrem Klarnamen. Auslöser war ein Praktikum in dem Archiv des Konzentrationslagers (KZ) Ravensbrück. Reisch berichtet, dass sie dort selbst den Nachlass ihres Urgroßvaters eingearbeitet hat. Er war Kommunist, überlebte das KZ und engagierte sich später beim VVN-BdA, um Nazis vor Gericht zu bringen. »Er hat viele Bücher und Manuskripte hinterlassen. Das hat mich beeindruckt und mich zum Nachdenken angeregt: Was bleibt von meiner Arbeit übrig, wenn ich mit einem anonymen Namen agiere?«, sagt die Mitte 20-Jährige. Bisher habe sie noch keinen »richtigen Shitstorm erlebt«. Auf Twitter wird manchmal ihre »Frisur und mein Speck angegriffen, aber ich finde das eher lustig«, so Reisch weiter.

Tina Velo ist sich nicht sicher, ob sie sich nach dem Shitstorm nochmals dafür entscheiden würde, einem Medium ihren echten Namen zu sagen. Aber sie will weiter politisch aktiv bleiben und gibt ihre Erfahrungen an andere Menschen weiter. Ihrer Freundin Nina Treu, die nach ihr ebenfalls bei Maybrit Illner eingeladen wurde, riet sie, nach der Sendung nicht das E-Mail Postfach zu öffnen und vorher sensible Informationen so gut wie möglich aus dem Internet zu löschen. Treu, Referentin des Vereins »Konzeptwerk Neue Ökonomie«, sagt gegenüber »nd«: »Der Tipp war super, eine Kollegin hat meine Mails eine Woche lang vorsortiert und alle Hassnachrichten gelöscht.« Weil sie hauptberuflich in dem Themenspektrum arbeitet, zu dem sie in die Talkshow eingeladen wurde, stellte sich für sie aber auch gar nicht die Frage, ein Pseudonym zu verwenden.

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