Nicht mehr als ein Anfang

Fünf Jahre Mindestlohn: Thorsten Schulten fordert die Anhebung der Lohnuntergrenze auf zwölf Euro pro Stunde

  • Thorsten Schulten
  • Lesedauer: 3 Min.

Als vor fünf Jahren erstmals in Deutschland ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde, geschah dies gegen den Widerstand nahezu sämtlicher Wirtschaftsverbände. Letztere argumentierten dabei gerne mit der Tarifautonomie, die angeblich einer gesetzlichen Lohnuntergrenze entgegenstünde. In Wirklichkeit ging es jedoch vor allem darum, die Möglichkeit einseitiger Lohnfestsetzungen zu verteidigen, die angesichts einer stark rückläufigen Tarifbindung im Niedriglohnsektor besonders verbreitet war. Argumentative Schützenhilfe erhielten die Wirtschaftsverbände zudem vom Mainstream der Wirtschaftswissenschaft, der im Hinblick auf den Mindestlohn die abstrusesten Horrorszenarien an die Wand malte.

Zwar haben Wirtschaftsverbände und Wirtschaftswissenschaft den Mindestlohn nicht verhindern können, den politischen Kompromiss, der letztlich zum Mindestlohngesetz führte, haben sie gleichwohl erheblich beeinflusst. Dies gilt zum einen für die Ausgangshöhe des Mindestlohns. Mit 8,50 Euro wurde zwar eine Forderung der Gewerkschaften aufgegriffen. Letztere stammte jedoch bereits aus dem Jahr 2010 und hätte eigentlich 2015 entsprechend angepasst werden müssen. Die Gewerkschaften NGG und ver.di forderten in der Tat schon damals, den Mindestlohn möglichst rasch auf zehn Euro anzuheben.

Darüber hinaus zeigt sich der politische Einfluss der Wirtschaftsverbände vor allem bei der Anpassung des Mindestlohns. Diese erfolgt auf Empfehlung der paritätisch besetzten Mindestlohnkommission. Nach dem Mindestlohngesetz sollen im Rahmen einer Gesamtabwägung dabei soziale, wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Aspekte berücksichtigt werden. In ihrer Geschäftsordnung hat sich die Mindestlohnkommission jedoch im Grunde darauf festgelegt, sich nur an der Entwicklung der Tariflöhne zu orientieren. Damit bietet der aktuelle Anpassungsmechanismus keinerlei Möglichkeiten für substanziellere Erhöhungen.

Dass der Mindestlohn in Deutschland kein existenzsichernder Lohn ist, wird heute kaum mehr bestritten. Zwar hat die Lohnuntergrenze ursprünglich mehr als vier Millionen Beschäftigten teilweise erhebliche Lohnzuwächse beschert. Er reicht jedoch selbst bei einem vollzeitbeschäftigten Singlehaushalt in der Regel nicht aus, um den Anspruch auf Aufstockungsleistungen zu verlieren.

Um einigermaßen über die Runden zu kommen, wäre heute ein Mindestlohn zwischen 12 und 13 Euro notwendig. Die Forderung nach 12 Euro wird mittlerweile von einem breiten Spektrum von Gewerkschaften, LINKEN, Grünen, SPD bis hin zu Teilen der CDU unterstützt. Gegenüber dem aktuellen Mindestlohn von 9,35 Euro würde dies einem Zuwachs von mehr als 28 Prozent entsprechen und etwa zehn Millionen Beschäftigte betreffen. Alles in allem entspräche eine Erhöhung auf zwölf Euro einer zweiten Durchsetzung des Mindestlohns gleich, die in ihrer Reichweite größer wäre, als die Einführung selbst.

Ein solches Projekt ruft selbstverständlich zahlreiche Kritiker auf den Plan. Die Gegenargumente sind dabei dieselben wie schon bei der Einführung des Mindestlohns. Zum einen geht es um die möglichen Auswirkungen auf die Tarifpolitik. Für mehr als zwei Drittel der Beschäftigten mit Löhnen unter zwölf Euro ist diese Frage jedoch irrelevant, da sie in Unternehmen ohne Tarifbindung arbeiten. Tarifverträge mit Lohngruppen von teilweise noch deutlich unter zwölf Euro gibt es vor allem in Branchen wie der Landwirtschaft sowie dem Bäcker- und Friseurhandwerk, in denen die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht vergleichsweise gering ist. Ein höherer Mindestlohn würde hier die Chance eröffnen, die Tariflöhne deutlich anzuheben.

Wichtig ist, dass die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro so umgesetzt wird, dass sie den betroffenen Unternehmen Raum für geeignete Anpassungsmaßnahmen gibt. Dies spricht dafür, die Erhöhung nicht auf einen Schlag, sondern in mehreren Schritten umzusetzen. So könnte zum Beispiel ab 2021 der Mindestlohn auf zehn Euro und dann in den beiden Folgejahren auf elf bzw. zwölf Euro angehoben werden. Nach Lage der Dinge müsste eine solche Mindestlohnerhöhung durch den Gesetzgeber erfolgen, der zugleich gefordert wäre, den Anpassungsmechanismus zu reformieren. Dabei sollte zukünftig die Entwicklung der Tariflöhne eher die Untergrenze für die Mindestlohnanpassung bilden, die in bestimmten Situationen auch überschritten werden kann.

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