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  • KZ-Gedenkstätte Auschwitz

So alt wie ich

Die Fotografin Conny Höflich über ein fast unmögliches Bild

  • Conny Höflich
  • Lesedauer: 3 Min.

Erna Esther Löw war 46, als sie starb. So alt wie ich, als ich ihren Namen auf einem der Stolpersteine vor der Thomasiusstraße 11 in Berlin-Moabit las. Von dort wurde sie im Mai 1943 mit ihrem Mann Nuchem und ihrer Tochter Liane deportiert. Alle drei starben in Auschwitz. Ihr Sohn Willy überlebte.

Wusste sie, dass sie keine Zukunft hatte? Seit wann? Seit dem 9. November 1938, als die Gestapo nachts nach ihrem Mann fragte? Seit dem 19. September 1941, als der »Judenstern« verordnet wurde? Seit dem 24. April 1942, als sie keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen durfte? Was fühlte sie am 17. Mai 1943 auf dem Weg zum Güterbahnhof, nach Auschwitz?

Seit meiner Kindheit war Auschwitz für mich Schrecken und Anziehung zugleich. Schrecken ob der unendlichen Grausamkeit und Ohnmacht, die dort zu Hause waren. Anziehung durch Fragen danach, wozu Menschen fähig sind und was sie ertragen können. Mit der Geburt meiner Kinder kam Angst dazu. Angst, sie nicht schützen zu können. Ausgegrenzt zu werden, angepöbelt und geschlagen, Angst vor diesem Zug, der die Kinder in den Tod fährt.

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Erfüllt von dieser Angst besuchte ich vor einigen Jahren die Gedenkstätte Auschwitz. Unfassbar die heutige Leere und Stille dort. Unmöglich, fotografische Bilder für das dort Geschehene zu finden. Ein Bild fand ich auf der langen Zugfahrt. Nachdem ich kurz eingeschlafen und mit Schrecken wieder aufgewacht war, fotografierte ich bei einem Blick aus dem Fenster meine Angst.

Den Namen Erna Esther Löw kannte ich da noch nicht. Schicksale wie das ihre geben Auschwitz Namen. Das ist auch Menschen wie Astrid Vehstedt zu verdanken. Seit Mitte der 1980er lebt sie zwei Etagen über der früheren Wohnung der Löws. 2013 folgte sie der Einladung einer Initiative, Stolpersteine zu verlegen. Über die internationale Gedenkstätte Yad Vashem nahm sie Kontakt zu Shimon Lev auf, dem Enkel von Erna. Von Tel Aviv aus hatte der fast zeitgleich begonnen, dem Berliner Schicksal seiner Familie nachzugehen. Astrid Vehstedt fragte ihn um Erlaubnis zur Verlegung der Stolpersteine, lud ihn ein und half, Briefe der Familie aus den Jahren 1940 bis 1943 lesbar zu machen, sie einzuordnen. 2014 unterstützte sie ihn bei dem Film »Bei uns nichts Neues«, in dem heutige Hausbewohner aus diesen Briefen lesen.

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Was bleibt nach einem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz, was von dem Wissen um Einzelschicksale des millionenfachen Mordes? Betroffenheit, Mitgefühl, Trauer. Und die Verpflichtung zur Achtsamkeit, nicht zum Täter zu werden. Das mag angesichts der damaligen Grausamkeit »leicht« erscheinen. Und wird schwieriger, sobald Fragen nach dem Woher und Warum von Auschwitz aufkommen. Und Fragen nach den Grenzen zwischen Nicht-Täter-, Mit-Täter- und Täterschaft.

Meine jüngste Tochter, noch keine zehn Jahre alt, sah neulich eine kindgerechte Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg. Sie fragte, ob die Deutschen wirklich so schlimm waren, und fügte hinzu, dass sie nicht so sei. Wir sind in der Tat nicht für das verantwortlich, was vor unserer Geburt geschah. Unsere Verantwortung liegt in der Art und Weise, wie wir mit Vergangenheit umgehen und wie wir unsere Gegenwart und damit Zukunft gestalten.

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