Die Leiden der jungen Uigurin

Comic und Politik: »What has happened to me« zeigt Geschichte, während sie passiert

  • Nadire Y. Biskin
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer sich unter Comics etwas leicht Verdauliches zwischen Kunst und Literatur mit Sprech- und Denkblasen sowie mit vielen Klangwörtern vorstellt, der wird bei der Lektüre von Shimizu Tomomis Manga »What has happened to me« (Was mir widerfahren ist) verblüfft sein. Der frei zugängliche Online-Comic gliedert sich in die Reihe der politischen Graphic Novels ein, wie »Aufzeichnungen aus Jerusalem« von Guy Delisle, »Metro. Kairo underground« von Magdy El-Shafee und »Bruchlinien: Drei Episoden zum NSU« von Anne König und Paula Bulling.

»What has happened to me« zeigt den Umgang der chinesischen Regierung mit der muslimischen Turk-Minderheit der Uigur*innen in den letzten Jahren. Allerspätestens seit den China Cables, den geleakten Dokumenten aus Regierungskreisen, ist die Brisanz dieses Themas nicht abzustreiten. Die Vereinten Nationen schätzen die Zahl der in Umerziehungslagern gefangen gehaltenen Uigur*innen auf mehr als eine Million ein. Wie viele Menschen der Turk-Minderheit auf der Flucht sind, ist unbekannt - das UN-Flüchtlingswerk UNHCR hat keine Zahlen dazu.

Die in Japan ansässige Autorin Shimizu Tomomi äußerte sich laut »Guardian« gegenüber der japanischen Nachrichtenagentur Kyodo wie folgt: »Obwohl China unser Nachbarland ist, gibt es viele uns unbekannte Dinge. Über sie in meinen Mangas zu berichten, ist meine Pflicht.« Tomomi veröffentlichte bereits im April letzten Jahres »No one will say the name of that country« (Niemand spricht den Namen dieses Landes aus), das bereits von dem Leid der Minderheit handelte. Im August folgte »What has happened to me«, mit über fünf Millionen Besucher*innen auf ihrer Website und ihrem Twitter-Account, wo sie den Comic veröffentlichte, zum viralen Hit wurde. Der Vorsitzende des japanischen Uiguren-Verbandes Ilham Mahmut sagte, dass der Manga von Tomomi maßgeblich dazu beigetragen habe, die Welt über die Lage der Uigur*innen in China aufzuklären.

Auf 18 Seiten hat Tomomi festgehalten, was der jungen Mihrigul Tursun wiederfahren ist: Die Protagonistin, heute in den USA wohnhaft, lebte im Jahr 2015 in Ägypten. Zusammen mit ihrem Ehemann und ihren Drillingen, mit denen sie ihre in China lebende Familie besuchen wollte, wird sie am Flughafen Ürümqi Diwopu im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang verhaftet - und dann beginnt all das, was häufig unter Folter oder Genozid zusammengefasst wird. Gefühlt haben solche Ereignisse jedoch noch immer keine richtige Bezeichnung und können sprachlich höchstens durch Erzählungen verhandelt werden: Tursun wird von ihren Kindern getrennt, eines ihrer kleinen Kinder stirbt, sie wird mit Elektroschocks gefoltert und bekommt Medikamente verabreicht, über deren Wirkung und Ziel sie nichts weiß. Ihr wird ein Mittel gespritzt, das zu temporärem Gedächtnisschwund führt; ihr Ehemann wird später verhaftet und zu 16 Jahren Haft verurteilt. Nachdem die junge Uigurin nach Ägypten zurückkehren konnte, wird sie weiterhin seitens der chinesischen Regierung verfolgt und flieht daraufhin in die USA.

Nun stellt sich hier die Frage: Ein Comic über ein solches Ausmaß an Leid - ist das angemessen? Was dagegen spricht, ist die Gefahr der Verdinglichung der Leiderfahrenen durch den Kunstcharakter des Comics und die Verharmlosung der Geschehnisse durch die unmittelbare Ästhetisierung. »What has happened to me« zeigt allerdings, wie man dem entgegenwirkt: Zum einen wird nicht eine vollendete Geschichte erzählt, sondern die gegenwärtige. Damit kann der Manga Einfluss auf ebendiese erzählte Geschichte nehmen. Der Comic wurde beispielsweise auch während der Proteste in Hongkong gesichtet. Zum anderen verwendet Tomomi eine einfache und verständliche Sprache. Mittlerweile wurde ihr Werk in zehn Sprachen, unter anderem ins Englische, Chinesische und Uigurische, übersetzt - so wird die Sprachbarriere verringert. Zudem ist »What has happened to me« kostenfrei online zugänglich, wodurch auch die finanzielle Barriere überwunden ist. Darüber hinaus lässt Shimizu Tomomi Mihrigul Tursun ihre Sicht auf die Geschehnisse erzählen, wodurch das objektivierende Moment reduziert wird - ein Schritt in Richtung Resubjektivierung und Empowerment. Hierbei ist der Titel, der die Ich-Pers-pektive impliziert, ebenso maßgeblich. Auch gestalterisch hält sich die Zeichnerin zurück, indem sie auf Bilder in Schwarz-Weiß setzt. Während ihr erster Comic »No one will say the name of that country« noch idyllisch-romantische Szenen und geschmückte Räume zeigt, ist das im zweiten nicht mehr der Fall. Hier füllen Menschen die Räume. Alles ist aufs Minimale reduziert, wirkt fast trist und spiegelt damit den leiderfüllten Inhalt des Comics wider.

»What has happened to me« zeigt, dass Kunst Ausdruck von Solidarität sein kann. Der Comic hat das Potenzial von Empathieförderung für Leser*innen, die sich mit den aktuellen Geschehnissen der muslimischen Minderheit in China auseinandersetzen möchten. Er ist aber auch ein Ausdruck von Solidarität in dem Sinne, das Risiko einzugehen, zensiert zu werden oder mit Repressionen aus dem Nachbarland zu rechnen.

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