Falsche Kritik

Mindestlöhne schaden der Tarifbindung, heißt es. Doch das stimmt nicht.

Es scheint eine deutsche Spezialität zu sein, bei jeder anstehenden Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns wieder zu behaupten, der Mindestlohn bringe die Tarifbindung in Gefahr. In anderen Ländern - etwa den Niederlanden, wo der Staat seit Jahrzehnten einen Mindestlohn bestimmt - versteht man schon die Frage nicht. Doch hierzulande werden Wirtschaftsverbände und Unternehmen nicht müde, das Argument zu strapazieren. Ihm zufolge ist es außerordentlich dumm, wenn Gewerkschaften wie Verdi oder NGG, die die Tarifbindung stärken wollen, zugleich beim Mindestlohn einen großen Sprung auf zwölf Euro fordern. Denn warum, so das Argument, sollten Firmen einem Tarifverband beitreten, wenn die Politik die Löhne festlegt?

Festzuhalten ist: Zwölf Euro mindestens pro Stunde würden das Auskommen von elf Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verbessern. So viele Menschen in Deutschland verdienen derzeit weniger. Vor allem handelt es sich hier um Beschäftigte in Branchen und Betrieben, in denen es gar keinen Tarifvertrag gibt. Mit Tarif verdient man zwar in der Regel besser. Aber nicht immer: Nach Angaben des gewerkschaftsnahen Forschungsinstituts WSI lag Anfang 2019 etwa ein Fünftel aller Lohngruppen in Tarifverträgen unter zwölf Euro. Diese Tariflöhne würden durch einen Anstieg des Mindestlohns verdrängt.

Unternehmerverbände warnen, dieser Anstieg würde weitere Betriebe dazu bringen, sich aus der Tarifbindung zu verabschieden. Das allerdings ist fraglich. Die Tarifforscher des WSI jedenfalls konnten in den vergangenen fünf Jahren seit Einführung des Mindestlohns kein einziges Beispiel finden, wo ein Branchentarifvertrag wegen des Mindestlohns aufgekündigt wurde. Sie gehen nicht davon aus, dass sich das bei einem weiteren Anstieg gravierend ändern wird. Im Gegenteil: Mit Mindestlohn wird Tarifflucht weniger attraktiv, denn der mögliche Kostenvorteil schmilzt. Viele tarifgebundene Betriebe etwa im Einzelhandel oder Bäckerhandwerk begrüßen daher den Mindestlohn, weil dadurch Dumpingkonkurrenz begrenzt wird. Selbst dem Arbeitgeberverband BDA fallen für Tarifverträge weit mehr Gründe als eine bestimmte Entgelthöhe ein. So lobt er in einem Werbepapier zuallererst den Schutz vor ständigen Streiks, Kostenersparnis und Rechtssicherheit, aber auch mehrjährige Planungssicherheit durch Manteltarifverträge, die nicht das Entgelt betreffen, sondern andere Bereiche wie Arbeitszeit oder Urlaub regeln. Diese Vorteile bleiben vom Mindestlohn völlig unberührt.

Aber auch wenn Tarifverträge den Unternehmen Planungs- und Rechtssicherheit bringen, schließen sie diese Verträge in der Regel ja nicht »freiwillig«, etwa beseelt von einem sozialpartnerschaftlichen Geist. Die Behauptung, wenn der Staat die Lohnuntergrenze festsetze, verlören die Unternehmen das Interesse an der Tarifautonomie, verkennt, dass Unternehmen mit Tarifverträgen dem Druck kollektiv organisierter Beschäftigter nachgeben, die glaubwürdig drohen, mit langandauernden Streiks gehörigen wirtschaftlichen Schaden anzurichten.

Wenn überhaupt, dann könnte ein hoher Mindestlohn also die Gewerkschaften treffen - nämlich wenn Beschäftigte sich fragen, warum sie der Gewerkschaft beitreten sollen, wo doch der Staat ihren Lohn bestimmt. Allerdings verbessert der Mindestlohn gerade die Lage von Beschäftigten in Niedriglohnbranchen, die für Gewerkschaften traditionell schwer organisierbar sind. Dort ist die Tarifbindung ohnehin gering, und selbst wo es Tarifverträge gibt, sind Gewerkschaften oft zu schwach, um vernünftige Lohnzuwächse durchzusetzen. Die Beobachtungen des WSI stützen gewerkschaftliche Skepsis gegenüber dem Mindestlohn also nicht.

Auch wenn die Effekte je nach Sektor unterschiedlich ausfallen, haben in vielen Niedriglohnbranchen die Tarifparteien bereits vor dem Stichtag die Tarife angepasst. Der Mindestlohn bringt nicht nur für Niedriglöhner überdurchschnittliche Lohnzuwächse, er hat zum Teil das gesamte Lohngefüge nach oben verschoben. Denn wenn Ungelernte plötzlich mehr verdienen, wollen Fachkräfte ebenfalls mehr. Manchmal sind die Tariflöhne nur wenige Cent über den Mindestlohn gestiegen, manchmal ist es den Gewerkschaften aber auch gelungen, das Tarifniveau merklich über das Mindeste hinaus anzuheben. In einigen Branchen ist zudem spürbar, wie die aktuelle Debatte um einen deutlich höheren Mindestlohn die Tarifpolitik belebt. In der Systemgastronomie etwa läuft derzeit ein Kampf für mindestens zwölf Euro pro Stunde. Und wenn der Mindestlohn von zwölf Euro einmal eingeführt ist: Warum sollten sich Beschäftigte eigentlich damit bescheiden, statt - dann entlastet von den drängendsten Existenzsorgen - für 12,50 Euro, 13 Euro, 13,50 Euro zu kämpfen?

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal