»Was sich Leute vor fünf Jahren noch nicht getraut haben, sagen sie jetzt«

Mobile Beratungsstellen für Betroffene von rechter Gewalt verzeichnen deutschlandweit steigende Fallzahlen

  • Ira Schaible
  • Lesedauer: 4 Min.

Koblenz/Mainz. Eine schwarze Deutsche wird beim Einkaufen von einem Fremden rassistisch beleidigt und angerempelt. Eine jüdische Mutter ist immer wieder antisemitischen Beschimpfungen aus ihrer Nachbarschaft ausgesetzt. Und ein alternativ-punkig gekleideter Mann wird nach einem Konzert von hinten von einem Unbekannten aus einer Gruppe niedergeschlagen und schwer verletzt, auch einer seiner Begleiter wird angegriffen. »88 - Ihr wisst Bescheid!«, rufen die Täter ihren Opfern noch hinterher.

88 steht in der rechtsextremen Szene für die Buchstaben HH und für Heil Hitler. Solche Betroffenen von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt unterstützt die mobile Beratungsstelle m*power in Rheinland-Pfalz. 96 Beratungsfälle (darunter drei Gruppen) waren es 2019 - und damit fast dreimal so viele wie im Vorjahr (37) - Tendenz stark steigend, wie der Leiter der Beratungsstelle mit Hauptsitz in Koblenz, Rolf Knieper, sagt.

Alleine im Januar dieses Jahres seien 20 neue Beratungsfälle dazu gekommen, etwa doppelt so viele wie im gleichen Monat des Vorjahres.»Und wir kratzen nur an der Spitze des Eisbergs.« In dem Anstie gspiegle sich die Gesamtstimmung in der Gesellschaft wieder. »Was sich Leute vor fünf Jahren noch nicht getraut haben, sagen sie jetzt«, ist Knieper überzeugt.

Viele Rassisten fühlten sich im Recht und fänden dafür Bestätigung, ergänzt Wolfgang Faller vom Familien- und Integrationsministerium. »Das vielfach festgestellte Anwachsenvon Hass- und Drohbotschaften on- und offline« nennt das Ministeriumin einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der grünen Abgeordneten Pia Schellhammer als einen Grund für den Anstieg - aber auch den wachsenden Bekanntheitsgrad der 2017 gegründeten Beratungsstelle.

Von August an soll die Einrichtung mit zwei Vollzeitstellen zur Meldestelle für antisemitische Vorfälle ausgebaut werden, wie Faller ankündigt. Antisemitismus sei oft nicht das einzige Merkmal»gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«. Rechtsextremismus, Rassismus oder Frauenfeindlichkeit etwa kämen dazu.

»Bei einer großen Anzahl von Opfern von Gewalt und Bedrohung kann das Tatmotiv nichteindimensional zugeordnet werden«, heißt es in der Antwort des Ministeriums auf die Kleine Anfrage. Die Meldestelle soll auch dafür einen bessern Überblick bringen.

Opfer der rechtsextremen oder rassistischen Gewalt seien besondershäufig Migranten, politisch Andersdenkende, alternativ gekleidete Jugendliche, schwarze Deutsche, Wohnungslose sowie Schwule und Lesben, berichtet Knieper. Betroffen seien sowohl Männer und Frauen, alle sozialen Schichten und Altersgruppen. Eine vermutete politische Gegnerschaft sei oft schon genug.

»Es reicht, nicht rechts zustehen.« Opfer könne durchaus eine über 50 Jahre alte Frau werden, die sich in der Zivilgesellschaft engagiere. »Die demokratische, liberale, offene Gesellschaft wird abgelehnt«, formuliert es Faller. Alle von solchen verbalen oder körperlichen Angriffen Betroffenen könnten sich umgehend bei m*power im geschützten Rahmen beratenlassen.

»Eine körperliche Attacke ist heftig für den Einzelnen. Aber permanent verbal attackiert zu werden, kann eine heftigere posttraumatische Belastungsstörung nach sich ziehen«, betont Knieper. Als Beispiel nennt er die Tochter der von Nachbarn angefeindeten Jüdin. Sie habe aufgrund der Traumatisierung eine Essstörung entwickelt.

Andere verließen ihre Wohnung nicht mehr. Im Mittelpunkt der Beratung von m*power stehe, »dass sich die Betroffenen in ihrem Leiden ernstgenommen fühlen und ihre eigene Handlungsfähigkeit wiedererlangen«, betont Integrationsministerin Anne Spiegel (Grüne).

Knieper rät Betroffenen, möglichst schnell Kontakt aufzunehmen und sich zu überlegen, Anzeige zu erstatten, auch dabei könne die Beratungsstelle unterstützen. Bei m*power arbeiten außer Sozialarbeiter Knieper noch zwei Fach- und eine Honorarkraft. Sie fahren durch das Land, um Betroffene zu beraten - zu Hause, im Café oder in einer Einrichtung.

Sie geben auch Seminare: 21 waren es im vergangenen Jahr. Auch die seien immer häufiger gefragt, etwa von Schulen. Aber auch Kitas hätten großen Bedarf, weil mitunter rechtspopulistische Bemerkungen von Eltern oder im Team laut würden, berichtet Knieper. So sei eine Kita nach einem interkulturellen Fest förmlich von Eltern überrannt worden, die vehement ein »deutsches Fest« gefordert hätten. dpa/nd

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