Notlüge oder Lebenslüge?

Die Thüringer CDU ist über ihren Schatten gesprungen und tut so, als habe sie es nicht bemerkt

  • Sebastian Haak, Erfurt
  • Lesedauer: 5 Min.

Schon während Kameras und Mikrofone am Freitagabend noch liefen, bemühte sich Mario Voigt in rhetorischen Kunststückchen. Man könnte auch sagen Verrenkungen. Das, worauf sich Linke, SPD, Grüne und seine Partei geeinigt hätten, sei ein »historischer Kompromiss« in einer absoluten Ausnahmesituation, erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Thüringer CDU und Landtagsabgeordnete in einem Flur des Thüringer Landtages. Das alles werde nur »eine begrenzte Zeit« lang durchgezogen. Umso mehr, weil die CDU »eine eigenständige Partei und eine eigenständige Marke« sei. Es gebe noch immer »ideologische und weltanschauliche Unterschiede« zwischen seiner Partei und nicht nur den Linken, sondern dem gesamten rot-rot-grünen Lager. Davon, dass er gerade eine Duldung beziehungsweise die Tolerierung von Rot-Rot-Grün durch seine Partei verkündete hatte, sprach Voigt ausdrücklich nicht.

Eher im Gegenteil: Als die Kameras und Mikrofone ein paar Minuten später ausgeschaltet waren, versandte die CDU-Landtagsfraktion eine Pressemitteilung, die Voigts Ausführungen zusammenfassen und unterstreichen sollte. Mit diesem Satz am Anfang: »Die CDU-Fraktion beendet die Regierungskrise mit der Einigung auf einen Stabilitätsmechanismus für Thüringen.«

Das ist eine gewagte Interpretation dessen, was an diesem Abend in der thüringischen Landeshauptstadt verhandelt worden war. Denn alle vier beteiligten Parteien sind an die Grenzen des aus ihrer Sicht Vertretbaren gegangen. Die Einigung des Abends ist ein Kompromiss im besten ebenso wie im schlechtesten Sinne des Wortes. Im besten Sinne: Es zeichnet sich damit eine Lösung im Thüringer Politikdrama ab. Im schlechtesten Sinne: Niemand der Beteiligten ist wirklich glücklich damit. Bis auf vielleicht einzelne Bald-Wieder-Minister von Rot-Rot-Grün, die ihre Karrierepläne vorantreiben.

Der Kern des Problems stand am Ende der Pressemitteilung: »Die Stabilitätsvereinbarung bedeutet keine Koalition, keine Tolerierung und keine Duldung von Rot-Rot-Grün, sondern eine zeitlich eng begrenzte, projektorientierte Zusammenarbeit zum Wohle Thüringens.«

Selbst für die absurden Thüringer Verhältnisse ist diese letztere Einschätzung abstrus. Denn tatsächlich soll im Ergebnis der mehr als neunstündigen Verhandlungen vom Freitag genau das geschehen: Die Thüringer CDU will eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung dulden, tolerieren, mit Rot-Rot-Grün und damit auch mit den Linken zusammenarbeiten.

Inhaltlich, indem sich die Parteien auf eine Reihe von Projekten geeinigt haben, die in den nächsten Monaten gemeinsam im Landtag beraten und auch beschlossen werden: darunter ein Investitionspaket für die Kommunen und die Ausarbeitung des Landeshaushalts für das Jahr 2021. Es gehe es um die Haltung zum DDR-Unrecht, den Schulfrieden, die kommunalen Zuschüsse oder den ländlichen Raum, erläuterte Ramelow.

Personell, indem die CDU den Linken und Thüringer Ex-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zumindest mit einigen Stimmen mitwählen will, wenn der sich am 4. März im Landtag erneut um das Amt des Regierungschef bewirbt. Auch wenn die Landes-CDU von diesem Punkt am Samstag für eine kurze Zeit zumindest ein Stück weit wieder abzurücken schien - Äußerungen aus den Reihen der Union lassen den Schluss zu, dass der Deal wohl so aussehen wird: Offiziell hilft die CDU-Fraktion Ramelow nicht ins Amt, indem sie für ihn stimmt. Inoffiziell wird man aber dulden, dass vier oder vielleicht ein paar mehr Abgeordnete von der Freiheit des Mandats Gebrauch machen und bei der geheimen Abstimmung in der Wahlkabine für Ramelow stimmen werden. Entsprechend entspannt gab sich Ramelow am Samstag ob der eingetretenen Verwirrung um ein mögliches Abrücken der CDU von dem am Vortag erzielten Kompromiss. Er gehe noch immer davon aus, im ersten Wahlgang mit einer absoluten Mehrheit aus dem Lager der demokratischen Parteien gewählt zu werden, schrieb er am Samstag bei Twitter.

Demokratiestrategisch gibt es ebenfalls eine faktische Kooperation, wenn sich CDU wie auch Rot-Rot-Grün verpflichten, im Parlament keine gemeinsame Sache mit der AfD zu machen. Meint: Es wird keine parlamentarischen Initiativen geben, bei denen absehbar ist, dass sie nur dann eine Aussicht auf eine Mehrheit im Landtag haben, wenn die AfD zustimmt. Verhindert werden soll, dass die in Thüringen besonders radikalen Rechtspopulisten so etwas wie das sprichwörtliche Zünglein an der Waage im Parlament sind.

Der letzte wichtige Punkt der Einigung: Im April 2021 soll es vorgezogene Neuwahlen zum Thüringer Landtag geben. Besonders dieser Punkt bedeutet ein massives Zugeständnis von Rot-Rot-Grün an die CDU. Es ist, wenn man so will, der Preis, den das Dreierbündnis für die Tolerierung, die Duldung durch die CDU zahlt. Denn eigentlich hatte vor allem die SPD auf sofortige Neuwahlen gedrängt, seit am 5. Februar der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt worden war - jenes inzwischen weithin bekannte Ereignis, das den Freistaat in eine Regierungskrise gestürzt hat. Entsprechend enttäuscht über den späten Neuwahltermin zeigen sich unmittelbar nach den Verhandlungen der SPD-Landesvorsitzende Wolfgang Tiefensee und auch die Thüringer Jusos. »Ein so spätes Wahldatum eröffnet nun einen weiteren, langen Wahlkampf, der Thüringen lähmt«, sagte der Landesvorsitzende der Jusos, Oleg Shevchenko.

Gemessen an der Dimension der Einigung des Freitags aber darf man diesen Preis als durchaus klein bezeichnen, öffnet sich so mit der Thüringer CDU doch erstmals ein Landesverband gegen den ausdrücklichen Willen der Bundespartei nach links. Auch wenn dies nur geschieht, weil die politischen Realitäten im Freistaat nichts anders zulassen, wenn die Union nicht einen massiven Schwenk nach rechts vollziehen will.

Diese Öffnung nach links registrierte auch die Vorsitzende Katja Kipping, die dem Kompromiss von Erfurt auf Twitter eine »historische Dimension« zuschrieb. Damit sei die Zeit der Hufeisentheorie und damit der Gleichsetzung von Linker und AfD zu Ende. Die heftige Reaktion der Bundes-CDU zeigt ebenfalls, dass der in Erfurt vereinbarte Stabilitätsmechanismus nichts anderes als eine Duldung ist. Und dass das auch allen klar ist. Allen Verschleierungsbemühungen zum Trotz, die auch »Lebens(not)lügen« sind. Die, schrieb der Thüringer Grüne-Politiker Olaf Möller ebenfalls auf Twitter, dürfe man der CDU freilich nicht nehmen.

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