Die Entmannung in der Popmusik vorantreiben!

»Sex Revolts« von Joy Press und Simon Reynolds ist der Klassiker zum Thema Geschlechterverhältnis - und liegt endlich übersetzt vor

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 4 Min.

Adoleszenz ist anstrengend, und viele Jugendliche, vielleicht der überwiegende Teil, schrammen am Wahnsinn vorbei in den schweren Jahren zwischen 13 und 21. Gut ist, wenn man im Symbolischen Halt und Trost findet. Gestützt wurde die aufgepeitschte, in gewisser Weise verwirrte, in anderer wieder glasklare Jugend lange durch Pop: Musik, Bilder, Gesten und Haltung, mittels derer sich die Welt erschließen ließ.

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Joy Press/Simon Reynolds: Sex Revolts: Gender, Rock und Rebellion.
A. d. Engl. v. Jan-Niklas Jäger. Ventil, 472 S., br., 30 €.

Heute ist Popmusik nicht mehr so zentral und vielleicht gar nicht mehr die wichtigste Weltzugangsmöglichkeit (bei gleichzeitiger Flucht vor der Welt, das ist ja das Schöne an der Sache). Aber für die meisten Menschen, die - grob - nach dem Zweiten Weltkrieg und vor - sehr grob - 1990 geboren sind, waren die populären Künste im Allgemeinen und speziell Popmusik oft das maßgebliche Tor zur Welt.

So weit, so selbstverständlich für all die jungen Männer, die von all der Wut zehrten, von der Weltablehnung von Rock und Artverwandtem, die einen nicht hart, sondern weich machen sollten. Was selbstverständlich war und deswegen meist unbemerkt blieb: Wie stark auch noch die rebellischsten Rock-, Punk-, Punkrock- und Hip-Hop-Gesten eingespannt waren in die herrschende Geschlechtermatrix. Und es noch immer sind.

Die Literaturkritikerin Joy Press hat mit ihrem Mann, dem britischen Musikjournalisten Simon Reynolds, 1996 ein grundlegendes Buch über das Geschlechterverhältnis im Pop geschrieben. Dass die erste Übersetzung ins Deutsche sich über 20 Jahre später liest, als wäre es gestern geschrieben worden, mag damit zu tun haben, dass Bücher, die die herrschende Geschlechtermatrix grundlegend infrage stellen, kaum altern, vielleicht einfach deswegen, weil sich grundlegend wenig ändert.

Das Gleiche gilt für die kürzlich erschienene Neuauflage von Klaus Theweleits »Männerphantasien«, das Press und Reynolds als zentrale theoretische Referenz für das erste Drittel von »Sex Revolts« anführen. Von Mick Jagger und Jim Morrison über Led Zeppelin, The Clash und U2 bis hin zur Verkultung von Mörder- und Psychopathenfiguren im Werk von Nick Cave und Post-Hardcore-Bands wie Big Black: Die Rock-Geschichte wird nach Press und Reynolds befeuert von einem diffusen Gemisch aus Omnipotenzfantasie, (Auto-) Destruktivität und Kastrationsangst bei gleichzeitig immer wieder durchscheinender Sehnsucht nach Ruhe und Frieden.

Die Pimmelparade, die »Sex Revolts« in schlüssigen Kategorien bündelt, ist einerseits deprimierend: Es wimmelt auf den ersten 150 Seiten von Rebellen und Freiheitskämpfern, die mit einem Mal als misogyne Bindungsunfähige mit ungeklärtem ödipalen Gepäck auf der Flucht vor der immer drohenden Häuslichkeit erscheinen. Allerdings haben Press und Reynolds einen Ton im gemeinsamen Schreiben gefunden, der erkennen lässt, dass hier nichts zertrümmert werden soll. Sondern analysiert und verstanden.

Der zweite und dritte Teil von »Sex Revolts« nehmen jeweils gegenläufige Tendenzen in den Blick, die allerdings im selben Maße verbunden bleiben mit den das Feld im Wesentlichen bestimmenden Gegensatzpaaren: Reynolds und Press nennen unter anderem männlich/weiblich, Verstand/Körper, Kultur/Natur und Aktivität/ Passivität.

Die Psychedelik, das erste Gegenmodell, affirmiert erst einmal nur das, was die Körperpanzer nicht zulassen: Weichheit, Hingabe, Ozeanisches, Schlaf, Auflösung. Can, Brian Eno (»eine Entmannung der Rockmusik«) und My Bloody Valentine spielen zentrale Rollen: »Wo Can Anmut darin fanden, sich vom Flow des Rhythmus einverleiben zu lassen, setzt Eno dasselbe Gefühl mit Stillstand und Ruhe gleich.«

Allerdings wird es nie schematisch: Press und Reynolds hören wieder genau hin und finden auch bei den Klassikern widerstreitende Impulse. Zum Beispiel bei Jimi Hendrix und Miles Davis, deren Werk sowohl von Misogynie als auch von dem Wunsch nach Weichheit und Wasser bestimmt zu sein scheint.

Der letzte Teil des Buches liest sich am aktuellsten und bestimmt verschiedene Möglichkeiten, als Musikerin zu intervenieren und sich den eigenen Platz zu erstreiten. Das reicht von der Imitation »männlich« codierten Rebellentums (Joan Jett, L7) über die Betonung als »weiblich« codierter Eigenschaften (Janis Joplin, Lydia Lunch) bis zur Maskerade (Kate Bush, Annie Lennox) und schließlich zu dem Versuch, sich Zuschreibungen radikal zu entziehen (Throwing Muses, Hole). Bei diesen Namen wird dann doch die Zeitgebundenheit des Buches spürbar. Es empfiehlt sich, in Ergänzung zu »Sex Revolts« die Kommentare zu lesen, die Männer zum Beispiel zu Auftritten von Billie Eilish im Netz hinterlassen.

Während sich bei den etablierten Rollenangeboten in den letzten Jahren nicht mehr allzu viel getan hat, sind zurzeit verstärkt Künstler*innen unterwegs, die das Feld der Möglichkeiten erweitert haben. Sie beziehen sich nicht mehr auf männlich definierte Zeichen und forcieren nicht einmal mehr deren Dekonstruktion. Nein, sie interessieren sich nicht mehr sonderlich für das, was einen in den eignen Ausdrucksmöglichkeiten begrenzt und abschnürt. Das ist von allen narzisstischen Kränkungen offenbar eine der größten.

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