Ich hab dich schon gern, aber ...

Inga Dreyer erforscht Formen menschlicher Nähe in Zeiten des Kontaktverbots

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Kernfamilie hat Konjunktur. Und das scheinbar nicht aus ideologischen, sondern aus pragmatischen Gründen. Menschen außerhalb der eigenen Familie zu berühren, bringt plötzlich ganz neue moralische Bedenken hervor. Nicht die eigene Ehre steht auf dem Spiel, sondern das gesundheitliche Wohl der Menschheit. Und wer will das schon gefährden?

Im Kreise von Familie und Wohngemeinschaft kann man sich trotz des Kontaktverbots frei in der Öffentlichkeit bewegen. Außerhalb davon nur mit einer weiteren Person - und 1,5 Meter Abstand. Wer allein lebt, und das tun in Deutschland über 17 Millionen Menschen, muss sich Gedanken machen. Mit wem will und darf ich mich noch treffen? Gründe ich eine Corona-Zweck-WG, um nicht alleine zu sein? Wie spreche ich anderen gegenüber an, dass ich sie weiterhin sehen möchte - oder eben nicht? Wer hat einen »triftigen Grund«, anderen Menschen nahe zu kommen?

Die Berliner Polizei twitterte kürzlich: »Sie dürfen die Wohnung zum Besuch der Partnerin verlassen.« Auf Nachfrage, ob damit auch »undokumentierte Beziehungen« gemeint seien, hieß es: »Wenn Sie unseren Kolleg. gegenüber Ihre Liebe glaubhaft machen können, dann dürfte das kein Problem sein. ;) nurdieliebezählt«.

Aber wessen Liebe ist glaubhaft? Was ist mit der zarten und leichten Liebschaft? Und was mit engen Bezugsperson ganz abseits von Romantik? Kann ich der Polizei erklären, dass ich diese Person unbedingt sehen muss? Nicht jede Familie wird von der Polizei auf der Straße als solche »erkannt« und muss ihre Zusammengehörigkeit auf dem Papier unter Beweis stellen.

Polygame Beziehungen, Menschen, die zärtliche Kontakte zu mehreren Menschen haben, sind momentan wohl keine Lebensform, die Virolog*innen empfehlen würden. Plötzlich stellt sich die gefährliche Frage: Sehen wir uns noch? Nur wir zwei und sonst niemand? Sind wir Lebensabschnittsgefährten? Zumindest, bis die Krise überstanden ist? So eine Zwangsmonogamisierung von Beziehungen kann romantisch sein. Die Antwort auf die Frage, ob man sich noch sieht, aber auch schmerzhaft.

Der herannahende Frühling hat normalerweise etwas Verheißungsvolles. Derzeit aber bleiben Schmetterlinge in der Puppe stecken. Auf der Straße gehen Menschen einander aus dem Weg. Statt einander interessierte, lächelnde Blicke zuzuwerfen, wechselt man die Straßenseite - oder wendet den Kopf ab. Flirten ist out. Wer jetzt alleine ist, wird es vermutlich noch eine Weile bleiben.

Was ist mit jungen Bekanntschaften, deren nächste Stufe nun auf Eis liegt? Kann das zarte Interesse eingefroren und wieder aufgetaut werden, wenn Neues wieder erlaubt ist? Was ist mit den Menschen, die nur zeitweise irgendwo leben und vor Ort gute Bekannte, aber keine engen Freund*innen haben? Was sage ich, wenn sich solche Bekannte melden? »Ich hab dich schon gern, aber du gehörst leider gerade nicht zu meiner Pseudo-Kernfamilie«?

Im Kopf werden Menschen in engere und weitere Kreise sortiert. Es ist schön zu bemerken, dass es enge Beziehungen gibt. Aber es kann ebenso erschütternd sein zu erkennen, dass sie fehlen. Abgrenzung funktioniert - bei allem Verständnis - nicht ohne Verletzungen.

Die Kernfamilie steht in Krisenzeiten gut da. Sie muss sich für Kontakt nicht rechtfertigen. Das heißt nicht, dass dieses Modell besser ist, oder sich auch nur besser anfühlt. Im besten Falle denken alle auch an Menschen außerhalb ihres Corona-Zirkels - denn dafür muss man sich nicht anfassen. Bei allem Rückzug ins Private sollte man wissen, dass es auch Zeiten nach der Krise geben wird, in denen einem der engste Kreis vielleicht zu eng wird.

Auch wenn die Möglichkeiten für Sex und Zärtlichkeit kleiner werden, gibt es vielleicht andere Formen, Nähe herzustellen. Vielleicht eine Brieffreundschaft? Gedanken zu sortieren ist in solchen Zeiten nicht die schlechteste Beschäftigung. Und auf dem Papier ist Erotik auch zwischen Fremden erlaubt - selbst mit mehreren Personen.

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