Martialischer Macron

Der Präsident übt sich in Kriegsrhetorik, während Paris verlässt, wer es verlassen kann

  • Matthias Ebbertz, Paris
  • Lesedauer: 7 Min.

Bloß weg aus Paris. Die Flucht der Bourgeoisie angesichts drohender Gefahr hat in Frankreich Tradition. »Historisch gesehen hatte die städtische Bourgeoisie immer ein Haus, das einen Tagesritt entfernt war, damit sie ihre Familien im Falle von Pest oder Hitze in Sicherheit bringen konnte«, sagt der Soziologe Jean Viard.

Auch die Coronakrise sorgt für einen Exodus. Schon Mitte März waren die Pariser Ausfallstraßen dicht, der Verkehr staute sich, an den Bahnhöfen Gedränge, weil Menschen noch irgendwie einen Zug erwischen wollten. Es sind längst nicht nur die Reichen, die wegwollen. Wer kann, fährt zu Familie oder Freunden aufs Land. Schätzungen zufolge haben inzwischen 20 Prozent der Bewohner die französische Hauptstadt verlassen.

Auch die meisten Studenten sind weg. Die Pariser Wohnungen sind klein, die Metropole ist mit über 21 000 Menschen pro Quadratkilometer dichter besiedelt als New York. Ein idealer Nährboden für die Verbreitung des Sars-CoV-2. Die Metropolregion zählt neben der Region Grand Est zu den Hotspots der Pandemie in Frankreich. Am Abend des 16. März verkündete Präsident Emmanuel Macron in einer Rede an die Nation eine Ausgangssperre für ganz Frankreich, schon ab dem kommenden Tag um zwölf Uhr. Der Präsident spricht von Krieg.

Am Montagabend blickte Frankreich nun einer weiteren Verkündung präsidialer Maßnahmen entgegen, hatte Macron erneut eine Rede an die Nation angekündigt. Es ist beliebte Strategie französischer Präsidenten, bei inneren Krisen und schlechten Umfragewerten in den Krieg zu ziehen. Für Macron ist es der Krieg gegen den unsichtbaren Feind, wie er das Virus nennt, um den präsidententreuen Teil der Nation hinter sich und seinen drastischen Maßnahmen zu versammeln.

Der Erfolg scheint ihm politisch vorerst recht zu geben. Von Macrons geplanter Rentenreform, mit der er sich den längsten Generalstreik Frankreichs seit Jahrzehnten einhandelte, spricht heute niemand mehr. Die Umfragewerte des Präsidenten steigen. Dabei ist die Ausgangssperre auch Ergebnis eines Versagens.

Als der US-amerikanische Präsident Donald Trump die Gefahr des Virus noch herunterspielte, sorgte das in Europa für Kopfschütteln, nur zu gut passte es in das Bild des Trumpismus. Doch so anders waren die ersten Reaktionen der französischen Regierung auch nicht. Noch am 6. März wurde Macron im Theater abgelichtet, nur sechs Tage, bevor er Schulen und Universitäten im ganzen Land schließen ließ.

Im Februar hatte der neu ins Amt gekommene Gesundheitsminister Olivier Véran großspurig verkündet, das Land sei bestens vorbereitet, das französische Gesundheitssystem hochsolide. Seine Vorgängerin Agnès Buzyn hatte da gerade unter Tränen ihren Rücktritt verkündet, offiziell, um für Macrons Partei La République en marche (LaREM) für das Amt der Pariser Bürgermeisterin zu kandidieren. In einem Interview mit der französischen Tageszeitung »Le Monde« einen Monat später erklärte sie dann den Grund ihrer Tränen: Sie habe die »schwerste Gesundheitskrise seit einem Jahrhundert« schon im Januar kommen sehen, den Präsidenten aber vergeblich gewarnt. Drei Tage nach dem Interview seiner Amtsvorgängerin gestand schließlich auch Gesundheitsminister Verán öffentlich ein, dass das Land nicht vorbereitet sei.

Abwiegeln, Herunterspielen und die Wirtschaft nicht gefährden, das war das Credo der französischen Regierung. Doch nun kann Macron das Vorgehen plötzlich nicht mehr martialisch genug sein. Die Ausgangssperre ist strikt, vergleichbar mit Italien und Spanien. Das Haus darf nur eine Stunde am Tag verlassen werden, jeder muss eine Selbstbescheinigung mit sich führen und der Ausgangsradius ist auf 1000 Meter um das Haus begrenzt.

Jeden Abend um acht Uhr applaudieren viele Menschen, als Dank für die Arbeit der Pflegekräfte und Ärzte. Nachbarn, die man nicht einmal kannte, grüßen sich und machen sich gegenseitig Mut, erzählt Charlotte Sempéré. Sie ist Lehrerin und hat bis zum Ferienbeginn über Internet unterrichtet, télétravail, so heißt das Homeoffice hier.

In manchen Quartieren mischen sich politische Parolen unter das Klatschen. Die Wut in Frankreich wächst, auch bei Charlotte Sempéré. Die französische Regierung könne sich den Dank an die Krankenhäuser für ihre Arbeit sparen, findet sie, denn es sei immerhin dieselbe Regierung, »die durch Kürzungen der Budgets die Privatisierung des Gesundheitssektors« forciert habe. Inzwischen sind laut Umfragen über 60 Prozent nicht mehr zufrieden mit dem Krisenmanagement der Regierung.

Unterdessen sorgt die Flucht der Pariser aufs Land in der Provinz für Konflikte. Das Gefühl, von Paris im Stich gelassen zu werden, ist in vielen Gegenden stark, das zeigt sich in zahlreichen Kommentaren. Die Pariser verachteten die Landbevölkerung, so ist der Eindruck, aber für die Sommerferien oder in der Stunde der Gefahr können sie gar nicht genug Landluft haben. Die Befürchtung wird laut, dass sich das Virus so noch schneller verteilt und dass die sowieso schlechte medizinische Infrastruktur in den strukturschwachen ländlichen Gegenden überlastet wird.

Dass drastische Maßnahmen notwendig sind, darüber besteht weithin Einigkeit, auch in der politischen Linken. Doch so sehr das Virus alle infizieren kann, so sehr zeigt sich gerade in Frankreich, dass die Folgen nicht alle gleichermaßen treffen. Wer aus Paris aufs Land fliehen kann und wer nicht, wer im Homeoffice arbeiten darf und wer weiterhin zur Arbeit muss - das entscheidet sich auch nach Klassenzugehörigkeit. Das Département Seine-Saint-Denis ist das ärmste der Banlieues, der Vorstädte, die sich wie eine »kleine Krone«, eine »petite couronne« um Paris legen. Doch die proletarischen Viertel, zu denen Saint-Denis gehört, haben noch einen anderen Namen. Sie zählen zum Roten Gürtel, den Arbeiterquartieren im Norden und Osten von Paris.

In Saint-Denis können die Ausgangsbeschränkungen kaum eingehalten werden. Viele Menschen leben auf engem Raum, sie müssen zur Arbeit, wenn sie denn welche haben. Sie sind es, die die wichtigen Bereiche der Produktion in Paris gerade am Leben erhalten: Busfahrer*innen und Zugführer*innen, Ladenbesitzer*innen, Kassierer*innen, Pflegekräfte. Der größte Teil der Arbeit wird heute von Arbeitnehmer*innen mit Migrationshintergrund verrichtet, erzählt Nathan, der seinen Nachnamen nicht verrät. Die Menschen dort haben Angst, sagt er, Angst vor dem Tod durch Corona, Angst vor den sozialen Folgen, die sie am härtesten treffen werden.

40 Prozent der Bewohner*innen seien nicht in Frankreich geboren, ein Drittel lebt unter der Armutsgrenze, sagt Magali. Er ist in dem Viertel in der Gruppe »Entraide Covid Saint-Denis« (»Gegenseitige Hilfe bei Covid in Saint-Denis«) aktiv, die sich nach Ausbruch der Pandemie gründete - angesichts »der Tatenlosigkeit der öffentlichen Behörden und um uns gegenseitig zu unterstützen«. Auch er möchte anonym bleiben. Die Antwort des Staates auf die kritische Lage in Saint-Denis sei massive Repression und Stigmatisierung, sagt er. Tatsächlich wurden nirgendwo so viele Menschen von der Polizei mit Bußgeldern belegt, wie in Saint-Denis. Videos und Berichte von Polizeigewalt kursieren.

Die Ansteckungsrate ist hoch in Saint-Denis, die Todesrate auch. Als die Gilets Jaunes, die Gelbwesten, in Paris demonstrierten, sprach der französische Schriftsteller Édouard Louis von den gezeichneten Gesichtern der Demonstrierenden. Es sind dieselben von Lohnarbeit und Armut gezeichneten Gesichter, die jetzt in den Nachrufen der Gewerkschaften zu sehen sind, viele von ihnen sind nicht viel älter als 40. »Chronische Krankheiten, wenig Zugang zu medizinischer Versorgung und Unterfinanzierung der Krankenhäuser im Verhältnis zur Einwohnerzahl«, das seien die Ursachen der Armut schon vor der Pandemie gewesen, die Saint-Denis nun zum Zentrum der Covid-Krise im Großraum Paris machen, sagt Magali. Als am 7. April Präsident Macron das Viertel besuchte, schlugen ihm Protest und offene Wut entgegen.

Nathan hat Arbeit gefunden in einem Covid-19-Zentrum, das sich um kranke Obdachlose und Geflüchtete kümmert. Zurzeit arbeitet er 45 Stunden in der Woche, es fehlt am Nötigsten, an Schutzausrüstung, an Personal. »Wir haben gerade nicht die Zeit und nicht den Luxus, an die Zukunft zu denken«, sagt er, »das ist die einzige politische Aktivität, die zurzeit möglich ist. Und sie ist überlebensnotwendig«.

Ende März haben sich in Frankreich nach dem Mailänder Vorbild die »Brigades de solidarité populaire« gegründet, was sich sehr grob mit »Brigaden für die Arbeiter*innensolidarität« übersetzen lässt. Ihr Ziel ist es, gegenseitige Hilfe mit einem politischen Anspruch zu verbinden. Selbstorganisierung soll die reine Hilfe ersetzen, die nur zu reparieren sucht, was die Herrschaft der Bourgeoisie zerstört habe. Daria, auch sie möchte ihren Nachnamen nicht preisgeben, sieht in ihrer Arbeit für die Brigaden eine Antwort auf die Frage, wie jetzt Politik noch möglich ist: »Diese Tat ist bereits politisch in sich selbst in dem Sinn, dass sie den Widerspruch aufzeigt zwischen der aktuellen Gesellschaft, die Bedürfnisse nicht in der Lage ist zu befriedigen und der kollektiven Selbstorganisation, die das schaffen kann.« Wie die Gesellschaft nach der Corona-Pandemie aussieht, entscheidet sich bereits jetzt.

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