Nur in Grenzen solidarisch

Stresstest für EU-Europa: Uneinige Regierungschefs beraten auf Videogipfel über Corona-Pandemie und Krisenhilfen

  • Peter Steiniger
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Aufgaben sind angesichts der Coronakrise gewaltig, die Erwartungen an das Treffen allerdings niedrig. EU-Ratspräsident Charles Michel hat die Staats- und Regierungschefs aus den 27 Unionsstaaten für diesen Donnerstag zu einem Gipfel in Form einer Videokonferenz geladen.

Der belgische Politiker möchte, dass der EU-Kommission dabei das Mandat zur Ausarbeitung eines »Wiederaufbauplans« erteilt wird. Geredet werden wird nicht zuletzt über Geld. Bereits die akuten Krisenhilfen für Mitgliedsstaaten, Firmen und Beschäftigte kosten Unsummen. Bisher haben sich die EU-Staaten über Maßnahmen im Umfang von mindestens 500 Milliarden Euro verständigt.

Eine Soli-Party wird das Meeting gewiss nicht. Knackpunkte sind der Umfang, die Modelle und besonders die Finanzierungswege für ein europäisches »Wiederaufbauprogramm«, für das die Superlative längst knapp werden. Tatsächlich hat der Lockdown in etlichen Branchen europaweit eingeschlagen wie eine Bombe: Nicht nur Gastronomie, Tourismuswirtschaft und Fluglinien liegen am Boden. Mit Einbrüchen bei Handel und Produktion droht länderübergreifend eine tiefe Rezession mit einer beispiellosen Pleitewelle. Millionen Jobs lösen sich gerade in Rauch auf. Millionen Menschen stehen vor einem sozialen Abstieg. Das gefährdet mittelbar auch die politische Stabilität in den Mitgliedsstaaten und den Bestand der Europäischen Union insgesamt.

Vom Schock zur Therapie

Die EU, schreibt Michel, brauche jetzt Investitionen vom Kaliber des US-amerikanischen Marshall-Plans, der im westlichen Nachkriegseuropa einst das Wirtschaftswunder in Gang setzte. Auf den Tischen der Regierungschefs liegt dazu ein von Michel gemeinsam mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erstellter vierseitiger »Fahrplan zur Erholung«. In Eckpunkten umreißt die »Roadmap«, wie sie sich den Weg aus der Sackgasse hin zu einem »krisenfesteren, nachhaltigeren und faireren Europa« vorstellen. Große Pläne dafür werden schon mal angekündigt.

Der Fahrplan zeichnet ein düsteres Bild des Ist-Zustands. Die aktuelle Krise sei »beispiellos« und habe »schwere Auswirkungen auf alle Bereiche unserer Gesellschaft«. Besonders verwiesen wird auf die Wirtschaft. Um diese neu anzuschieben, müssten durchtrennte Wertschöpfungs- und Lieferketten wieder geschlossen werden. Bei der Umsetzung des Brüsseler Heil- und Kostenplans für die EU weisen sie dem Finanzsektor eine Schlüsselrolle zu.

Mehr Markt, mehr Autonomie

Das ein Impulsreferat beim Gipfel vorwegnehmende Papier zeigt deutlich, dass ein Auseinanderdriften der Mitgliedsstaaten in der Krise im Raum steht. Die drohende asymmetrische Erholung von den Folgen der Coronakrise wäre nur durch politische Entscheidungen abzuwenden, die mehr Größe besitzen als die nun gehandelten astronomischen Summen.

In seinen Vorschlägen zur Wiederbelebung der Wirtschaft setzt das Papier auf bekannte Schlagworte. »Saubere und digitale Technologien« sollen Wachstumsmotor und damit Jobmaschine sein. Im Mittelpunkt steht die Rettung des Gemeinsamen Marktes der 27 EU-Staaten, des bislang größten internationalen Binnenmarktes. Nach dem EU-Austritt Großbritanniens als zweitgrößter Volkswirtschaft ohne abschließend vereinbarte Regeln ist dieser bereits angeknackst.

Die Krise hat auch Brüssel vor Augen geführt, dass die »Fabrik der Welt« heute am anderen Ende der Seidenstraße steht: Deutlich heraus stellt der »Fahrplan« das Ziel, die »strategische Autonomie« der EU sicherzustellen. Erreicht werden soll das durch eine »dynamische Indus-triepolitik« und die Etablierung von Wirtschaftskreisläufen, die von externen Akteuren weniger abhängen. Für die EU sollen Masken endlich Pflicht werden: Besonders »kritische Güter«, heißt es, sollen in Europa selbst hergestellt werden, »um die übergroße Abhängigkeit von Drittstaaten auf diesen Gebieten« abzubauen.

Die »Roadmap« soll bald um einen detaillierten Aktionsplan ergänzt werden. Man darf gespannt sein. Nicht vergessen wurde darin ein Bekenntnis zu EU-Hilfe für noch notleidendere Staaten, insbesondere denen Afrikas. Sie soll mit der Wiederherstellung von Handels- und Lieferwegen Hand in Hand gehen.

Hilfe aus Eigennutz

Auch Bundesaußenminister Heiko Maas betonte zum anstehenden EU-Gipfel die Bedeutung der Solidarität im Ringen mit der Krise. Wohltuend klar unterstrich er gegenüber der Deutschen Presse-Agentur nach der Betonung der Solidarität als Baustein des EU-Wertefundaments Berlins eigene Interessen als Sachwalter einer exportorientierten Volkswirtschaft. »Wenn weite Teile der EU tief in der Krise stecken - wer kauft dann unsere Produkte?«

Mit Blick auf die am 1. Juli beginnende deutsche EU-Ratspräsidentschaft betont der SPD-Politiker die Bedeutung von Führungsstärke und Perfektion im Management, gerade in Zeiten wie diesen. Und Deutschland will die EU demnach auch bei anderen Themen als Corona - wie Klimaschutz oder Migration - voranbringen.

Bevor sich die deutsche Lokomotive in Gang setzen kann, müssen auf dem EU-Gipfel erst einmal Bremsen gelöst werden. Vor allem bei der Frage gemeinsamer Schulden zur Finanzierung des Konjunkturprogramms klemmt es. Die EU-Kommission setzt auf Geld vom Kapitalmarkt, mit einem deutlich größeren EU-Haushalt als Sicherheit. Staaten mit bereits hohem Defizit wie Italien befürchten, noch tiefer in die Schuldenspirale zu geraten. Von der Linken kommen Forderungen nach von der Zentralbank besicherten Corona-Bonds und einer neuen Steuerpolitik.

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