Der tiefe Fall Syrizas

Vor zehn Jahren kapitulierte die Regierung Tsipras vor der EU. Elias Chronopoulos zum Ende linker Reformpolitik in Europa

Ganz oben mitmischen: Syriza-Chef Alexis Tsipras nach seinem Sieg bei der Parlamentswahl, Januar 2015
Ganz oben mitmischen: Syriza-Chef Alexis Tsipras nach seinem Sieg bei der Parlamentswahl, Januar 2015

Als Syriza im Januar 2015 die Wahlen in Griechenland gewann, war sie die große Hoffnungsträgerin der europäischen Linken. Nur sieben Monate später war das Projekt besiegt. Sie gehörten damals zur Parteiführung. Was waren die zentralen Fehler Syrizas?

In den 2000er Jahren entwickelte sich Syriza als eine Partei, die in sozialen Bewegungen tief verankert war und zugleich ein größeres politisches Projekt verfolgte. Das war in dieser Verbindung einzigartig. Vielen Menschen in Griechenland war klar, dass die Sozialdemokratie am Ende war, weil es keinen Raum für Reformpolitik mehr gab. Und Syriza gelang es mit der Ablehnung der Austerität, immer größere Teile der Bevölkerung zu repräsentieren. Das allerdings hätte auch mit einem Wandel innerhalb der Partei einhergehen müssen. Als Syriza 2012 zweitstärkste Kraft wurde, hätte man sich auf die absehbare Konfrontation mit der Troika und den kapitalistischen Kräften in Griechenland selbst vorbereiten müssen. Stattdessen hat man sich in Richtung einer normalen Partei entwickelt. Der Konflikt spitzte sich 2015 in der Regierung zu – auch wegen der Gewalt, mit der die Troika jede Alternative zur Austeritätspolitik bekämpfte.

Es war doch aber absehbar, dass jede linke Reform auf den massiven Widerstand des internationalen Kapitals stoßen würde. Warum fand Syriza keinen Umgang damit?

Die Partei machte Politik wie immer und setzte auf die Verhandlungen mit der Troika. Und das, obwohl die Gläubiger offenkundig nicht zu Zugeständnissen bereit waren. Sie wollten Syriza unbedingt erniedrigen ...

Interview

Elias Chronopoulos war als Vertreter der Parteijugend 2015 Mitglied der Syriza-Führung. Heute ist er nicht mehr parteipolitisch aktiv und engagiert sich unter anderem in der Solidarität mit Geflüchteten.

... auch um einen linken Kurswechsel in Südeuropa zu verhindern – in Spanien und Portugal legte die Linke damals ebenfalls zu ...

Als die Tsipras-Regierung merkte, dass es keine Vereinbarung mit der Troika geben würde, rief sie zum Referendum auf. Allerdings hatte sie keine Strategie für den Tag danach. Als die Troika noch aggressiver wurde, musste Syriza sich entscheiden. Es war eine Situation, die wie eine revolutionäre Situation im Sinne Lenins aussah. Man hätte einen entschiedenen Schritt nach vorne machen müssen, doch darauf war Syriza nicht vorbereitet.

Die These, dass es sich um einen »Verrat« von Alexis Tsipras handelte, würden Sie nicht teilen?

Wenn wir Aufstieg und Niedergang von Syriza allein der Person Alexis Tsipras zuschreiben würden, wäre das eine sehr reduzierte Analyse. Aber natürlich ist es auch wahr, dass er eine Schlüsselrolle spielte. Es wurde immer deutlicher, dass seine einzige Strategie darin bestand, an der Regierung zu bleiben. Dafür stellte er den Kampf gegen die Austeritätspolitik zurück. Insofern ist seine persönliche Verantwortung für die Entwicklung groß.

Syriza ist seitdem zur Karikatur geworden. 2023 wählte die Partei einen amerikanischen Millionär zum Vorsitzenden, der kurz nach seiner Abwahl aus Syriza austrat. Heute liegt die Partei in Umfragen bei fünf Prozent.

Es ist nicht mehr die Partei, wie wir sie kannten: Es geht ihr nicht mehr um grundlegende Veränderungen. Vor einigen Monaten hat Alexis Tsipras vorgeschlagen, dass sich alle »progressiven« Parteien – darunter auch die völlig abgewirtschaftete PASOK – zusammenschließen sollten. Seit Syriza die Sparprogramme akzeptierte, beschränkt sich ihre Strategie darauf, irgendwie an der Regierung zu bleiben oder in die Regierung zurückzukehren. Ohne etwas Wesentliches verändern zu können.

Das Wahlbündnis Syriza

Die »Koalition der Radikalen Linken« (Syriza) entstand 2004 als Wahlbündnis griechischer Linksparteien und erzielte in den ersten Jahren Wahlergebnisse von drei bis fünf Prozent. Erst mit der Schuldenkrise 2011 und dem Kollaps der sozialdemokratischen Regierungspartei PASOK wurde Syriza in Griechenland zu einem zentralen politischen Akteur. Im Januar 2015 kam die Koalition mit dem Versprechen, die Spardiktate der »Troika« (Europäische Kommission, Internationaler Währungsfonds und Europäische Zentralbank) nicht länger umzusetzen, auf 36,4 Prozent der Stimmen und konnte mit Alexis Tsipras erstmals den Regierungschef stellen. Nach heftigen Konflikten sowohl mit der Troika als auch mit der deutschen Regierung (insbesondere mit Finanzminister Wolfgang Schäuble) beraumte die Syriza-Regierung ein Referendum über das Sparpaket der Troika an. Bei dieser Abstimmung im Juli 2015, dem »Oxi-Referendum«, sprachen sich 61 Prozent der Wähler*innen dafür aus, die Vorgaben der Troika nicht zu akzeptieren. Doch weil die Europäische Zentralbank die griechischen Banken vom Geldzugang abschnitt und das Land vor einem Währungsausfall stand, blieben Syriza nur zwei Optionen: Entweder man trat aus dem Euro aus (was ebenfalls eine massive Versorgungskrise nach sich gezogen hätte) oder man brach das Wahlversprechen, unterwarf sich der Troika und akzeptierte eine (bis heute andauernde) Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Ministerpräsident Alexis Tsipras entschied sich für letzteres und kündigte die Umsetzung der Troika-Forderungen an. Viele Linke traten daraufhin aus Syriza aus. Am 20. August 2015 musste Tsipras Neuwahlen ansetzen. Zwar gewann er noch einmal die Parlamentswahlen. Doch mit dem neuen sozialdemokratischen Profil – Tsipras verzichtete auf jede Konfrontation mit den europäischen Wirtschaftseliten – verspielte die Partei innerhalb kürzester Zeit ihre Glaubwürdigkeit. In aktuellen Umfragen liegt Syriza bei etwa 5 Prozent.

Aber war die versprochene Änderung überhaupt möglich? Der Ökonom Costas Lapavitsas von der London School of Economics forderte, Griechenland müsse die Eurozone verlassen. Auch Yanis Varoufakis, der Finanzminister von Syriza, hielt das am Ende für den einzig denkbaren Ausweg. Dieser Austritt hätte allerdings ebenfalls einen Schock nach sich gezogen. Gab es dafür ein Mandat?

Das ist eine gute Frage. Deswegen ist im Rückblick auch schwer zu sagen, wo genau sich Syriza von linken Positionen entfernte. Das Problem bestand darin, dass das Referendum kein klares Mandat erteilte. Die Frage war so formuliert, dass die Wähler die Austeritätspolitik der Troika ablehnen konnten. Aber es blieb unklar, ob sie damit auch einen Austritt aus dem Euro befürworteten. Hier hätte es eine klarere Frage geben müssen. Ich habe im Mai 2015 dafür plädiert, dass Syriza eine Alternative formuliert und sich auf den Euro-Austritt vorbereitet. Unser Versprechen bei den Parlamentswahlen war gewesen, dass wir keine sozialen Opfer zur Stabilisierung des Euro akzeptieren würden. Deshalb hätten wir für eine Alternative zum Euro ein neues Mandat benötigt. Wir hätten beim Referendum eine klare Alternative formulieren oder mit diesem Vorschlag Neuwahlen ansetzen müssen. Ob wir gewonnen hätten, steht auf einem anderen Blatt. Aber es ist besser, im Kampf für die eigenen Werte besiegt zu werden, als die eigenen Werte so anzupassen, dass man an der Regierung bleiben kann. Tsipras hat das Referendum damit begründet, dass er die Bevölkerung nicht betrügen darf. Eine Woche nach dem Referendum hat er genau das dann aber getan.

Die griechische Linke ist heute diskreditiert, die sozialen Bewegungen sind zerfallen. Wäre es besser gewesen, gar nicht erst zu regieren? Immerhin war doch bereits im Vorfeld klar, dass eine linke Politik unmöglich sein würde, solange die Macht der EU-Institutionen nicht gebrochen ist.

Das war die Position der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE). Sie war sich immer sehr sicher, dass im Kapitalismus nichts verändert werden kann. Doch diese Haltung halte ich auch nicht für besonders befriedigend. Die Linke sollte schon versuchen, Projekte zu entwickeln, die Alternativen für die arbeitenden Klassen aufzeigen. Eine kleine Partei, die immer nur darauf hinweist, dass man auf den Tag der Revolution warten muss, ist keine Lösung. Und wie gesagt: Man hätte im Sommer 2015 auch die Flucht nach vorn ergreifen und für einen Bruch mit der Troika werben können.

Sie haben sich nach Ihrer Zeit bei Syriza in der Solidarität mit Geflüchteten engagiert. Das war immer ein wichtiges Argument für die Regierung Tsipras: dass ihre Migrationspolitik humaner war.

Die Lage jetzt ist zweifelsohne schlimmer als vor 2019. Die Brutalität der Pushbacks beweist das deutlich. Aber auch hier trägt Syriza Mitverantwortung: Die Syriza-Regierung hat 2015 zwar die Pushbacks gestoppt und eine migrantenfreundlichere Rhetorik gepflegt, aber sie hat die schrecklichen Hotspots aufgebaut. Ich würde sagen, dass Syriza Grundlagen für die rechte Gegenoffensive gelegt hat.

Überall in Europa und Nordamerika legt die extreme Rechte zu. Mit welcher Politik ließe sich die Entwicklung stoppen?

Das weiß ich natürlich auch nicht besser als andere. Aber ich denke, es braucht eine Verbindung sozialer und politischer Kämpfe. Es geht um konkrete Verbesserungen für die arbeitenden Klassen, aber auch um eine grundsätzliche Alternative zu den Verhältnissen. Die Linke muss sich als Gegenpart zur herrschenden Politik begreifen. Ob in der Klimakrise, bei der wachsenden Ungleichheit oder beim Genozid in Palästina – für eine linke Strategie, die sich mit den kapitalistischen Verhältnissen arrangiert, gibt es keinen Raum. Wir brauchen eine Linke, die eine Alternative formuliert. Und diese muss sowohl die Globalisierung als auch deren nationalistische Form herausfordern. Syriza hatte 2010 gezeigt, wie das gehen kann. Damals gab es mit der »Goldenen Morgendämmerung« eine rechtsextreme Partei, die von verschiedenen Seiten massiv unterstützt wurde. Doch damals nahm die Stärke der sozialen Bewegungen der Rechten noch die Luft.

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