Die Katastrophe ist hier der Normalzustand

Der Gefängnisseelsorger Thomas-Dietrich Lehmann über die Situation in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit

  • Mascha Malburg
  • Lesedauer: 3 Min.

Was hat sich in deutschen Gefängnissen durch Corona verändert?

Die Haftanstalten haben bereits Anfang März angefangen, Maßnahmen zum Schutz der Inhaftierten und der Belegschaft zu ergreifen. Bei uns in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit wurde eine Quarantänestation eingerichtet, in der neu ankommende Inhaftierte 14 Tage verbleiben müssen, bevor sie in Kontakt mit anderen Gefangenen kommen. Außerdem wurde in allen Berliner Gefängnissen die Zahl der Inhaftierten deutlich reduziert: Unter anderem sind Ersatzfreiheitsstrafen derzeit ausgesetzt. So haben wir hier in Moabit nur noch etwa 750 Gefangene statt den sonst üblichen 950 bis 1000. Ähnliches gilt für das Personal, das natürlich die größte Ansteckungsgefahr birgt. Fachdienste zum Beispiel kommen jetzt abwechselnd statt gleichzeitig in die Anstalt. Das ist alles erstmal positiv zu sehen und scheint auch zu funktionieren: Bis jetzt ist mir kein Coronafall in den Berliner Gefängnissen bekannt. Aber natürlich leiden die Gefangenen auch unter den Einschränkungen: Sie dürfen keinen Besuch mehr empfangen, Gruppenangebote finden nicht statt, und auch unsere Gottesdienste können wir nicht mehr wie gewohnt halten.

Im Interview

Thomas-Dietrich Lehmann arbeitet seit zehn Jahren als evangelischer Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit. Mit ihm sprach Mascha Malburg.

Wie gestaltet sich die Seelsorge unter diesen Bedingungen?

Am 15. März haben wir hier unseren letzten Gottesdienst gehalten, dann wurden in der Anstaltskirche alle Stühle zusammengestellt. Gemeinsam mit den katholischen Kolleginnen haben wir uns eine Alternative überlegt: Jede Woche bringen wir nun eine ökumenische Zeitung heraus, die »Moabiter Kirchenpostille«. Auf vier Seiten lesen die Gefangenen unsere Nachricht in unterschiedlichen Sprachen, außerdem drucken wir den jeweiligen Gottesdienst ab. Da steht dann: »Öffnen Sie am Sonntag um zehn ihr Fenster, hören Sie die Kirchenglocken.« Wir halten um diese Uhrzeit einen ökumenischen Gottesdienst in der leeren Gefängniskirche und hoffen, dass die Menschen in ihren Zellen ein bisschen davon spüren können. Erst kürzlich sagte mir ein Gefangener, dass unsere Zeitung die einzige positive Energie ist, die er vonseiten der Haftanstalt erlebt. Das hat mich sehr berührt. Die Einzelseelsorge geht verstärkt weiter, wenn auch mit Abstand.

Wie erleben die Inhaftierten diese Zeit?

Die Situation macht die Reaktionen extremer: Die Souveränen werden souveräner, die Frustrierten frustrierter. Generell sind die Gefangenen froh um jeden Kontakt. Sie leiden sehr darunter, dass sie niemand besuchen darf. Gleichzeitig sind diese Menschen »kampferprobt«: Die Katastrophe ist hier der Normalzustand. Im Einzelgespräch sagte mir einer kürzlich: »Herr Lehmann, wir sind das doch gewohnt.«

Was nehmen Sie aus dieser ungewöhnlichen Situation mit?

Wir sehen gerade: Veränderungen und kreative Lösungen im Strafvollzug sind möglich. Moabit war immer an der Überlastungsgrenze, jetzt konnten die Belegungszahlen reduziert werden. Das ist eine wichtige Erkenntnis für meinen Einsatz für ein humaneres Gefängnissystem, für das wir Geistlichen auch nach Corona weiter eintreten werden.

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