Blitzableiter und Postologen

Der Wiener Historiker Anton Tantner flaniert durch das k.u.k. Blödigkeitskabinett

  • Lesedauer: 8 Min.

»Verdrängter Humanismus - verzögerte Aufklärung« lautet der Titel eines Standardwerks zur Geschichte der österreichischen Philosophie, und was für die lichten Höhen philosophischer Geistesanstrengungen gilt, lässt sich auch ganz konkret anhand der Geschichte der mit Jahrzehnten Verspätung erfolgten Montage eines Blitzableiters am Wiener Stephansdom zeigen. Dabei hätte es auch hierzulande die Möglichkeit einer zeitgerechten, sogar recht frühen Anwendung dieser neuen Technik gegeben, denn nur wenige Jahre nach Benjamin Franklin war es der tschechische Prämonstratenserpriester Prokop Diviš, der 1755 vorschlug, öffentliche Gebäude wie die Hofburg oder auch Schiffe mittels einer »meteorologischen Maschine« vor Gewitter zu schützen; ein Nachbau dieses Blitzableiters kann heute noch an Diviš’ Wirkungsstätte in Přímětice, einem Stadtteil von Znojmo, besichtigt werden.

Das Ansinnen von Diviš blieb unerhört und ähnliches war zwei Jahrzehnte später dem Vorschlag eines gewissen Jan Ingenhousz, seines Zeichens Leibarzt Maria Theresias, beschieden: Er hatte sich erbötig gemacht, am Stephansdom einen Blitzableiter zu installieren und einen Beitrag zur damals die Wissenschaftsgemeinde bewegenden Frage zu leisten, ob denn nun spitz oder rund geformte Metallstangen effizienter wären. Die ambitionierten Pläne des Leibarztes verliefen jedoch im Sand, es blieb bei ein paar am Turm angebrachten Stangen und Drähten, die aber nicht durchgängig miteinander verbunden waren und die Blitze nicht in den Boden, sondern in den Stein des Doms ableiteten: Bei jedem Einschlag - und der Turm wurde oft getroffen - bröselte somit das Gemäuer, dass es eine Freude war.

Anton Tantner

Die Miniaturen von Anton Tantner verdanken sich einer geradezu wissenschaftlichen Obsession für Abseitiges und Unbekanntes, für Renitenz und Eigensinn: Ganz gleich ob es sich um Blitzableiter, Zuchthäuser, unscheinbare Parkanlagen, um Splatterstories, die Trockenrasen des Marchfelds, um schräge Gestalten oder andere Zwischenwesen handelt, sie alle werden in diesem Band dem Vergessen entrissen. Inspiriert von Walter Benjamin und Michel Foucault werden diese Geschichten für die Erkenntnis der Gegenwart, vielleicht sogar für deren Veränderung mobilisiert.

Ursprünglich in Wiener Print- und Onlinemedien erschienen – viele davon in der Straßenzeitung Augustin – , überraschen die 41 hier versammelten Entdeckungen und Einsichten, die einen neuen Zugang zur Wiener Geschichte erschließen und die LeserInnen dazu anstiften wollen, ihre eigenen Streifzüge durch die Welt der Vergangenheit zu unternehmen.

Anton Tantner ist Historiker und unterrichtet an der Universität Wien. Er publiziert u. a. für »Augustin«, »Wiener Zeitung« und »Merkur«. Buchveröffentlichungen u. a. »Die Hausnummern von Wien«, »Die ersten Suchmaschinen«, »House Numbers«, »Zu den historischen Wurzeln der Kontrollgesellschaft« (mit Jana Herwig).

Kein Wunder also, dass aufklärerisch gesinnte Gelehrte und Literaten immer wieder das Fehlen eines adäquaten Schutzes des ehrwürdigen Doms monierten; zu ihnen zählte etwa der norddeutsche Schriftsteller Friedrich Nicolai, der 1781 die Residenzstadt bereiste und mit seinem strengen Urteil über deren katholische Rückständigkeit nicht hinterm Berg hielt. Zu dieser Zeit verbreiteten sich Blitzableiter im gesamten deutschen Sprachraum, nur die höchste Erhebung der Wiener Stadt blieb davon ausgenommen. Dies blieb auch einem späteren Direktor des Burgtheaters, nämlich Joseph Schreyvogel (1768 - 1832) nicht verborgen. Er zählt zu den heute weitgehend vergessenen Literaten der österreichischen Aufklärung, die zeitweise gezwungen waren, dem reaktionären habsburgischen Mief zu entfliehen. Der Beteiligung an der so genannten »Jakobinerverschwörung« beschuldigt, hatte er 1794 Wien verlassen und hielt sich in Jena und Weimar auf, bevor er zwei Winter später wieder zurückkehrte. Kurz vor seiner Heimkehr sollte er noch im November 1796 einen denkwürdigen Brief verfassen, in dem er zu wissen begehrte, »ob man in Wien in der Aufklärung so weit ist, daß der St. Stephansthurm auch einen Gewitterableiter hat«.

Die Antwort wäre immer noch negativ ausgefallen, auch nach Schreyvogels Rückkehr sollten etliche Gewitter die Donaumetropole heimsuchen, ohne dass sich die Aufklärung an der Spitze ihres Wahrzeichens manifestiert hätte. Unterdessen blieb der Literat seiner politischen Überzeugung treu und polemisierte in dem von ihm gegründeten, heute noch lesenswerten Sonntagsblatt gegen die deutschen Romantiker vom Schlag eines Friedrich Schlegel oder Adam Müller, die vom Katholizismus Wiens angezogen in die Kaiserstadt strömten, weil sie sich von dort Pfründe in ihrem Kampf gegen Napoleon und dessen das alte Europa mit Gewalt durcheinanderwirbelnde postrevolutionäre Politik erhofften. Naturwissenschaftliche Rationalität war deren Sache nicht, statt für Pockenimpfungen und Blitzableiter begeisterten sich diese Vorfahren der Globuligläubigen und Klimaskeptiker_innen für tierischen Magnetismus und die germanische Götterwelt.

Letztendlich war es indirekt der von diesen verblendeten Wirrköpfen bekämpften französischen Militärmacht zu verdanken, dass auch der Stephansdom zu seinem adäquaten Wetterschutz kam: In der Nacht vom 11. auf den 12. Mai 1809 war nämlich der Südturm beim französischen Bombardement in Mitleidenschaft gezogen worden, die Sprengung der Basteien während des Abzugs der Truppen im Oktober und November verstärkte den Schaden noch. Im folgenden Jahr begannen die Restaurationsarbeiten, bis September 1810 waren die schlimmsten Schäden beseitigt. Der Turm wurde im Zuge dieser Arbeiten trigonometrisch vermessen, und schließlich wurde unter technischer Aufsicht des aus Mailand stammenden Physikers Marsilio Landriani »auf Allerhöchsten Befehl Sr. Majestät des Kaisers Franz des I.« ein Blitzableiter angebracht. Gänzlich auf Aberglauben wurde aber nicht verzichtet, denn die Hirschgeweihe, die aus magischen Gründen seit Mitte des 16. Jahrhunderts am Turm zur Blitzabwehr befestigt waren, verblieben zumindest teilweise an ihrer Stelle; sie verschwanden vermutlich erst im Jahr 1839 bei der gänzlichen Neugestaltung der Turmspitze.

Das Fazit aus diesen Begebenheiten kann gemäß Schreyvogels Formel folgendermaßen gezogen werden: Aufklärung im Österreichischen Kaiserstaat wird erzwungen durch napoleonische Militärs und mit massiver Verspätung durchgeführt von Staats wegen. Die religiösen Implikationen dieser Tat sollte 99 Jahre nach der erfolgreichen Montage ein würdiger Nachfolger Schreyvogels, nämlich Karl Kraus, in seiner Fackel auf folgenden Aphorismus bringen: »Ein Blitzableiter auf einem Kirchturm ist das denkbar stärkste Mißtrauensvotum gegen den lieben Gott.«

Geheimes Ziffernkabinett

Das von der türkis-blauen Regierung 2018 beschlossene Überwachungspaket beinhaltet auch eine massive Aufweichung des Briefgeheimnisses. Damit wird an die übelsten Traditionen habsburgischer Geschichte angeknüpft.

Die Wiener Stallburg ist bis heute ein wenig einladendes Gebäude, das in seiner Geschichte verschiedenste Funktionen erfüllte: Seit seiner Errichtung im 16. Jahrhundert diente es manchmal als Kaiserresidenz, des Weiteren waren Gemäldegalerie und Hofapotheke hier untergebracht. Im Erdgeschoß tummeln sich bis in die Gegenwart die Lipizzaner, die Räumlichkeiten darüber werden derzeit unter anderem vom Stenographischen Dienst des Parlaments, der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und etlichen weiteren mehr oder weniger vertrauenswürdigen Think Tanks genutzt.

Weniger bekannt ist, dass der quadratische Bau vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis 1848 eine Einrichtung beherbergte, die das Ihre zum düsteren Ruf beitrug, den die Habsburgermonarchie nicht nur bei europäischen Freiheitskämpfer_innen, sondern auch bei anderen Staaten, gleich ob Freund oder Feind, genoss. Diese Behörde hatte im Laufe ihres Bestehens verschiedene Namen: Geheime Kabinetts-Kanzlei etwa, auch Geheimes Chiffren oder Ziffernkabinett, oder - noch altertümlicher - Zyffer-Secretariat und die dort angestellten, hochqualifizierten Beamten - viele von ihnen wohnten auch in der Stallburg - betrieben ein Geschäft, für das kakanische Amtsprosa so schöne Begriffe wie »spoliieren«, »perlustrieren« und »interzipieren« ersann. Nüchterner ausgedrückt bestand ihre Tätigkeit darin, fremde Briefe zu beschaffen, zu öffnen, gegebenenfalls zu dechiffrieren, davon Abschriften anzufertigen und schließlich wieder zu verschließen und an ihren eigentlich geplanten postalischen Bestimmungsort zu senden.

Derlei Postüberwachung war in vielen Staaten üblich, die habsburgische hatte es in diesem Wettbewerb der Infamie aber zu einer besonderen Meisterschaft gebracht. Mitwisser und Mittäter saßen auch in der offiziellen Post: Im Wiener Obersthofpostamt in der Wollzeile war eine der berüchtigten »Postlogen« angesiedelt, die im Auftrag des Ziffernkabinetts verdächtige Poststücke auszusortieren hatte. Die sichergestellten Briefe wurden darauf in Körben in die Stallburg zur weiteren Verarbeitung transportiert; der Umfang war durchaus beträchtlich, knapp vor der Revolution von 1848 wurden in Wien täglich 80 bis 100 Briefe derart behandelt. Auch in anderen Städten der Monarchie wurden derlei »Postlogen «, auch »schwarze Kabinette« genannt, installiert, dank der guten Verbindung zur Thurn- und Taxis-Post selbst in Städten außerhalb des habsburgischen Herrschaftsbereichs, sehr zum Ärger der preußischen Behörden übrigens. Jährlich konnten somit etliche tausend Briefabschriften (»Interzepte«) angefertigt werden: Ganz gleich, ob es sich um die Korrespondenz des Papstes, von Napoleon, des russischen Zaren oder des bayrischen Königs handelte, die österreichische Staatsspitze erhielt somit Nachricht von politisch brisanten oder sonst irgendwie delikaten Geheimnissen, die bei diplomatischen Verhandlungen genutzt wurden, und gar manche auf diese Weise abgefangene Geldsendung bereicherte das Salär des einen oder anderen Beamten.

Dass die Post der eigenen Spitzenpolitiker und selbst der Angehörigen des Kaiserhauses von derlei Überwachung nicht ausgenommen blieb und sich die Staatsmänner gegenseitig bespitzelten, erlaubt entsprechende Analogieschlüsse für Gegenwart und Zukunft: Mit ein wenig Phantasie lässt sich eine schlechte Schmierenkomödie ausmalen, in der etwa ein Innenminister peinliche Geheimnisse des Bundeskanzlers zugetragen bekommt und diesen darauf zu erpressen versucht. Für die Vergangenheit belegt ist jedenfalls, dass der neben Kaiser Franz eifrigste Leser fremder Post, Staatskanzler Metternich, wusste, dass seine eigene Korrespondenz nicht sicher war, weswegen er zuweilen einen persönlichen Kurierdienst durch Boten des Bankhauses Rothschild in Anspruch nahm. Pech nur, dass auch eine solche Vorsichtsmaßnahme keine absolute Geheimhaltung garantierte, Historiker_innen nehmen an, dass dieser Kommunikationsweg der Überwachung nicht entging.

Auch die Tätigkeit des Geheimen Ziffernkabinetts sollte nicht verborgen bleiben, weder vor ausländischen Mächten noch vor der Wiener Bevölkerung: Während der Revolution von 1848 gingen aus Zorn über diese jeden Grundrechten Hohn sprechende Einrichtung auch die Fenster der Stallburg zu Bruch. Die dort noch vorhandenen Briefabschriften wurden währenddessen von den verbliebenen Beamten verbrannt, trotzdem haben sich im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Unmengen solcher Dokumente habsburgischer Niedertracht erhalten. Mit der Revolution endete die Tätigkeit des Geheimen Ziffernkabinetts in der Stallburg, doch mit der einsetzenden Konterrevolution erlebte die Briefüberwachung ihre Neuauflage, diesmal als Teil der Tätigkeit des Außenministeriums. Das Staatsgrundgesetz von 1867 garantierte schließlich das Briefgeheimnis per Gesetz, fortan war dessen Verletzung nur mehr in wenigen Fällen - etwa zu Kriegszeiten - legal.

Anton Tantner:
Von Straßenlaternen und Wanderdünen. Miniaturen aus dem abseitigen Wien
Mandelbaum Verlag, 219 S., kt., 19,00 €

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