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Kontakt halten trotz Kontaktsperre

Jugendämter sind derzeit kaum handlungsfähig und angewiesen auf Hinweise aus der Nachbarschaft

  • Lesedauer: 3 Min.

Dortmund. Expert*innen warnen, dass die derzeitigen Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen das Risiko häuslicher Gewalt erhöhen. »Für eine Familie kann das eine Situation sein, in der ein Konflikt in Gewalt eskaliert«, sagt die Leiterin des Jugendamts der Stadt Dortmund, Annette Frenzke-Kulbach. Jugendämter sind daher in Alarmbereitschaft. Sie müssen ihre Arbeit den Corona-Maßnahmen anpassen, gleichzeitig aber versuchen, die Familien trotz Kontaktsperre zu erreichen.

Wie das Bundesfamilienministerium vergangene Woche berichtete, kam es zu einer gestiegenen Nachfrage beim deutschlandweiten Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen«. Bislang gebe es jedoch keine Anzeichen, dass häusliche Gewalt und Misshandlungen in Familien zugenommen haben, erklärte Frenzke-Kulbach. Im Vergleich zum Vorjahr hätten die Hinweise auf Kindeswohlgefährdung sogar abgenommen. Allerdings hätten Lehrer, Erzieher und viele Sozialarbeiter gerade gar nicht erst die Chance, Verdacht zu schöpfen und diesen dem Jugendamt zu melden, so Frenzke-Kulbach: »Aktuell können uns nur die Nachbarn sagen, 'in der Familie stimmt etwas nicht'.«

Auch der Deutsche Kinderschutzbund warnt vor einer Zunahme häuslicher Gewalt. »Zur Wahrheit gehört aber auch: Wir wissen es noch nicht«, sagte Präsident Heinz Hilgers. Die Fallmeldungen bei den Jugendämtern hätten so rapide abgenommen, dass dies nicht nur durch einen Wegfall von Frühwarnsystemen wie Kita und Schule erklärbar sei: »Möglich ist durchaus auch, dass Familien die Situation gemeinsam besser meistern, als gemeinhin angenommen wird.« Der Alltag sei entschleunigt und somit auch stressarmer.

»Je länger die Corona-Maßnahmen anhalten und je umfangreicher auch die Anforderungen der Schulen an das Lernen zu Hause werden, desto eher können Eltern die Nerven verlieren«, meint hingegen Katrin Dettmer, stellvertretende Jugendamtsleiterin im Berliner Bezirk Neukölln. Bislang habe es keinen Anstieg von Meldungen, die von auffälligem Lärm oder Geschrei in Wohnungen berichten, gegeben, doch man sei in Alarmbereitschaft.

Im März kritisierten 100 Wissenschaftler*innen in einem offenen Brief die mangelnde Handlungsfähigkeit der Jugendämter. So sei die Personalsituation schwierig, die Ausstattung für die Arbeit im Homeoffice schlecht und der Infektionsschutz für die Mitarbeiter mangelhaft. »Für manche stellt das Virus - neben der ehrlichen Sorge, die ich niemandem absprechen will - schon fast eine willkommene Ausrede dar, um Termine nicht wahrzunehmen und eben auch keine Hausbesuche zulassen zu wollen«, zitiert der Brief einen Jugendamt-Mitarbeiter einer hessischen Kleinstadt, der anonym bleiben will. Tatsächlich sei die Arbeit der Neuköllner Jugendämter und freien Jugendhilfe-Träger in der Coronakrise eingeschränkt, sagt Dettmer. Mit der Arbeit im Homeoffice, ohne Zugang zu Akten und einer parallelen Betreuung der eigenen Kinder, sei es unrealistisch, davon auszugehen, dass die gleiche Arbeit mit der gleichen Qualität geleistet werden könne. Trotzdem sei das Kindeswohl nicht infrage gestellt, betont sie.

Auch in Dortmund sei kein Jugendamt »plötzlich weg«, beteuert Frenzke-Kuhlbach. Dort würden die Mitarbeiter nach wie vor jeder Meldung nach Kindeswohlgefährdung persönlich nachgehen. Auch Dettmer vom Neuköllner Jugendamt bestätigt: »Wir fahren bei jeder akuten Meldung raus.« Zu Familien, die vom Jugendamt etwa durch Erziehungshilfen unterstützt werden, versuche man den Kontakt trotz Kontaktverbots aufrecht zu halten. Anstelle von Hausbesuchen finden in Dortmund und Neukölln daher Telefon- und Videogespräche statt. epd/nd

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