«Ich finde es total wichtig, sich getroffen zu zeigen»

Die Feministin Merle Stöver wird seit fast drei Jahren gestalkt. Sie hat den Täter angezeigt und spricht öffentlich über ihre Erfahrungen - auch, um andere in solchen Situationen zu stärken.

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 8 Min.
Merle Stöver bloggt, seit sie 17 ist. Sie ist regelmäßig mit Hasskommentaren von rechten Männern konfrontiert.
Merle Stöver bloggt, seit sie 17 ist. Sie ist regelmäßig mit Hasskommentaren von rechten Männern konfrontiert.

Eines Abends saß der unbekannte Mann in einem ihrer Vorträge. Merle Stöver sprach damals, im Juni 2017, in einem Antifa-Café zu Antisemitismus und Geschlechterverhältnissen. Die Feministin und Antisemitismusexpertin war in jenen Tagen viel unterwegs - sie bloggte, postete auf Social-Media-Plattformen, sprach auf Podien. Der Mann im Publikum schickte ihr später eine Freundschaftsanfrage auf Facebook - so, wie es viele tun. Merle Stöver nahm die Anfrage an, denn häufig gibt es noch Diskussionsbedarf. «Er schrieb mir daraufhin, dass mein Vortrag so klug war und dass er sich in mich verliebt hätte», erzählt die Journalistin, die im Master Interdisziplinare Antisemitismusforschung studiert.

Der Mann wurde penetranter. «Teilweise meldete er sich im Minutentakt - auch nachts», berichtet die 25-Jährige. Anfangs beteuerte er seine Zuneigung. «Doch das hat sich geändert, als ich auf Facebook etwas über Feminismus und sexualisierte Gewalt geschrieben habe.» Daraufhin schlugen seine Liebesschwüre in Beleidigungen um: Schlampe, Fotze, Hure. «Er meinte, er hätte sich in mir getäuscht. Dann hat er angefangen, meinem Partner zu schreiben und dessen Männlichkeit infrage zu stellen», erzählt Merle Stöver. Die Bedrohungen wurden immer drastischer. «Irgendwann schrieb er meinem Partner, dass er mich vor dessen Augen vergewaltigen will.» An diesem Punkt entschied sie, ihn anzuzeigen.

Merle Stöver berichtet gefasst von dem, was sie in den letzten Jahren erlebt hat. Sie sitzt in ihrer Berliner Wohnung vor einer grünen Wand, violette Tulpen in der Vase, hinter ihr ein Porträt von Marlene Dietrich und eine Büste von Karl Marx. Trotz ihrer Ruhe wird spürbar, dass die Erzählung Kraft kostet. Die eigene Verletzlichkeit zu offenbaren, gehört für sie zum Prozess der Selbstermächtigung dazu. «Ich finde es total wichtig, sich getroffen zu zeigen. Nichts von dem, was da passiert ist, hat mich kaltgelassen», betont sie.

Sie spricht unter anderem mit Journalist*innen über ihre Erfahrungen. Außerdem haben ihre Anzeigen und Ermittlungen der Polizei dazu geführt, dass sich der Stalker vor Gericht verantworten soll. Merle Stöver rechnet mich einem Prozesstermin im Laufe des Jahres. «Ich habe gerade die Ressourcen, das zu machen», sagt sie. Andere, die in ähnlichen Situationen sind, können das aus verschiedenen Gründen vielleicht nicht.

Stalking kann Menschen psychisch ans Ende ihrer Kräfte bringen. Es zermürbt, beschert Ängste, Albträume, ein immerwährendes Gefühl der Bedrohung. Auslöser sind häufig das Zerbrechen von Beziehungen. Ehemalige Partner*innen oder Liebhaber*innen wollen die Trennung nicht wahrhaben und versuchen weiterhin Macht über die andere Person auszuüben. Häufiger sind es Frauen, denen ihre Ex-Partner nachstellen, doch auch Männer sind betroffen. Auch muss dem Stalking keine Liebesbeziehung vorausgegangen sein, wie das Beispiel von Merle Stöver zeigt. Es muss nicht einmal persönlichen Kontakt gegeben haben. «Soweit ich mich erinnere, habe ich überhaupt nicht mit ihm gesprochen», sagt sie.

2007 wurde der Straftatbestand der «Nachstellung» eingeführt. Laut Paragraf 238 im Strafgesetzbuch wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer einer anderen Person unbefugt auf eine Weise nachstellt, «die geeignet ist, deren Lebensgestaltung schwerwiegend zu beeinträchtigen». Das kann auch übers Telefon oder Internet passieren. Im Onlinebereich spricht man von Cyberstalking.

Ihrer Erfahrung nach handele es sich meist um Mischformen, sagt Leena Simon, IT-Expertin und Netzphilosophin, die beim Anti-Stalking-Projekt des FRIEDA-Frauenzentrums in Berlin Frauen berät. Dass Cyberstalking immer mehr zunimmt, sei kein Wunder. «Je mehr wir unseren Alltag und unsere Kommunikation im digitalen Raum stattfinden lassen, umso mehr wandern auch die damit verbundenen Gewalttaten in den digitalen Raum. Diskriminierung hat online einen neuen Raum gefunden.»

Ob analog oder digital: Stalking bleibt Stalking und kann juristisch verfolgt werden. Eine Anzeige könne zwar in seltenen Fällen zu einer Eskalation der Situation führen, warnt die Berliner Beratungsstelle Stop-Stalking. In einigen Fällen aber reiche eine Anzeige aus, damit der oder die Beschuldigte das eigene Verhalten ändere. Um die Folgen abzuschätzen, sei eine Beratung sinnvoll, rät die Beratungsstelle.

Nach der ersten Anzeige schien Merle Stövers Stalker tatsächlich ruhiger geworden zu sein. Dann aber ging es wieder los. «Er schrieb, dass ich mich nicht aufspielen solle und der Staatsanwaltschaft meine Anzeige wohl nicht wichtig genug sei, erzählt sie. Nachdem er ein paar Monate später wieder genauso penetrant wurde wie vorher, zeigte sie ihn erneut an. »Ich habe dann ein Kontaktverbot beim Amtsgericht beantragt, das schnell bewilligt wurde«, erzählt sie.

Juristisch gesehen gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, gegen Stalking vorzugehen. Über den Tatbestand der Nachstellung im Strafgesetzbuch ist eine Strafverfolgung möglich. Ein Annäherungsverbot könne durch das Gewaltschutzgesetz erwirkt werden, erklärt Stop-Stalking. Auch telefonischer Kontakt und Textnachrichten können untersagt werden.

Als das Annäherungsverbot ausgesprochen war, war Merle Stöver beruhigt und fuhr in den Urlaub. »Aber als ich nach zwei Wochen wiederkam, hatte ich über 30 Zeitungsbestellungen im Briefkasten.« Es kamen immer mehr Lieferungen: Kleidung, Weinkisten, ein Hometrainer, Autoreifen, eine Sexpuppe. »Ich habe mit Hilfe von Freundinnen und Freunden alles storniert und zurückgeschickt«, erzählt Merle Stöver. Anfangs dachte sie, sie hätte selbst einen Fehler gemacht. Mit der Zeit aber wurde ihr klar, dass die Bestellungen von ihrem Stalker stammen mussten. Inzwischen wisse sie, woher er ihre Adresse hat: von der Polizei. »Die Beamten haben meine Anzeige mit ungeschwärzter Adresse rausgeschickt«, erzählt sie. Der Stalker selbst habe ihr als Beweis ein Foto des Schreibens geschickt.

Von der Polizei fühlte sich Merle Stöver zu Beginn nicht gut beraten. »Was online passiert, wurde als echte Bedrohung kaum ernst genommen«, sagt sie. Als der Terror mit den Lieferungen nicht mehr aufzuhören schien, ging sie mit der Sexpuppe auf die Wache und fragte, was sie damit machen solle.

Leena Simon rät - ausgehend von den Erfahrungen ihrer Klientinnen - beim Thema Cyberstalking einen Termin in der Beratungsstelle zu vereinbaren, bevor eine Anzeige bei der Polizei gestellt werden soll. »Bei der Polizei fehlt es leider noch immer häufig an einer Sensibilisierung für das Thema Digitale Gewalt. Es gibt dort auch sehr engagierte, einfühlsame und kompetente Menschen, aber die muss man halt erwischen«, sagt Leena Simon.

Viele Betroffene begreifen lange nicht, was ihnen geschieht, bis es jemand als »Stalking« benennt. »Für mich war es nötig, dass mir das ein Polizist sagt und dass das in meiner Akte steht«, sagt Merle Stöver. Vielleicht liegt es daran, dass Stalking stark im privaten, intimen Raum verortet wird. »Man hat dieses Bild vor Augen, dass das etwas mit vermeintlicher Liebe zu tun hat - oder mit etwas, was mal Liebe war«, sagt sie und kritisiert, dass das Thema in feministischen Debatten eine viel zu kleine Rolle spiele.

Für Betroffene ist es oft schwierig zu erkennen, dass sie Stalking erleben. Gerade, was Straftaten im Internet betrifft, scheinen Toleranzgrenze und Leidensfähigkeit hoch zu sein. Das liegt auch daran, dass Menschen, die wie Merle Stöver öffentlich kritische Meinungen vertreten schnell zur Zielscheibe von Shitstorms werden. Virtuell mit Exkrementen beworfen zu werden, scheint für viele beinahe etwas Alltägliches geworden zu sein.

Merle Stöver, die seit ihrem 17. Lebensjahr bloggt, ist regelmäßig mit Hasskommentaren konfrontiert - vorwiegend von Männern aus dem rechten Spektrum, die frauenfeindliche und antisemitische Positionen vertreten.

Treffen sie Frauen, haben die Beleidigungen oft sexistischen Charakter. Das Aussehen wird kommentiert, sexuelle Gewalt wird angedroht. Frauen, die kontroverse Meinungen vertreten, müssen aus Sicht der Kommentatoren häufig »mal wieder richtig durchgefickt« werden. Dabei würden gerade linke, politisch engagierte Frauen häufig zum Ziel solcher Attacken, sagt Veronika Kracher. Die Journalistin beschäftigt sich unter anderem mit Rechtsterrorismus, Feminismus und Patriarchatskritik. Demnächst bringt sie ein Buch zur Incel-Subkultur heraus. Diese »Involuntary Celibates«, unfreiwillig im Zölibat Lebende, treffen sich unter anderem in Onlineforen und tauschen sich dort über ihren kruden Frauenhass aus. Für Veronika Kracher ist die Bewegung keine Nische, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungen. »Attacken gegen Frauen resultieren aus dem Gefühl der Gefahr, dass eine patriarchale Hegemonie angegriffen wird«, sagt sie - und bezieht sich dabei auf die amerikanische Philosophin Kate Manne, die frauenfeindliche Attacken als Kontrollmechanismus analysiert.

»Durch das Internet ist es wesentlich leichter, Frauen großflächig und misogyn zu attackieren«, sagt Veronika Kracher, die selbst Erfahrungen mit Mord- und Vergewaltigungsdrohungen gemacht hat. Nachdem sie Anfang 2019 twitterte, es sei legitim, einen AfD-Politiker zu verprügeln, weil Nazis auf allen Ebenen bekämpft werden müssten, rollte eine virtuelle Lawine an Angriffen auf sie zu. »Es ist eine Strategie der radikalen Rechten, politische Gegnerinnen und Gegner durch gezielte Shitstorms anzugreifen, sie zu diffamieren und ihnen so politische Arbeit zu erschweren oder zu verunmöglichen«, sagt Kracher. Auch Merle Stöver sieht frauenfeindliche Hetze im Netz und Cyber-Stalking nicht als individuelle, sondern gesellschaftliche Probleme. »Ich glaube, bei Frauen geht es darum, zu sagen, wo ihr Platz ist und sie aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen.« Ob auch ihr Stalker aus dem radikal rechten Milieu stammt, ist unklar. Merle Stöver darf nichts über ihn sagen.

Sie hoffe, dass es bald zum Prozess kommt. Um auf die Situation aufmerksam zu machen, hat sie im Januar eine Soliparty veranstaltet. Danach erzählten ihr viele Frauen von ihren eigenen Erfahrungen. »Was einige von ihnen erlebt haben, ist purer Wahnsinn«, sagt Merle Stöver. Sie weiß, wie Stalking das eigene Leben verändern kann. Zeitweise habe sie Angst gehabt, das Treppenhaus zu betreten. »Ich konnte nicht mehr studieren und habe mich massiv zurückgezogen, weil ich die Angriffe nicht ausgehalten habe.« Vorträge hält sie vorerst keine mehr, sondern konzentriert sich auf ihre Masterarbeit, die sie über Antiziganismus und das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen 1992 schreibt.

Der Austausch mit anderen Betroffenen bestärkt sie, den Prozess durchzuziehen - auch, weil so wenige Menschen wegen Stalkings verurteilt werden. Sie spricht weiter über ihre Hass- und Gewalterfahrungen, will dabei aber nicht auf die Rolle eines Stalkingopfers reduziert werden. »Feministin zu sein bedeutet für mich, über die Scheiße zu reden, die einer passiert - und sich dafür einzusetzen, dass sie anderen Frauen nicht passiert«, betont sie.

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