Selbstreflexion mit Wagner-Häppchen

Werft die Operngläser weg! Alexander Kluge dekonstruiert im Württembergischen Kunstverein das Musiktheater

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 4 Min.

Oper gibt es nicht in Klein. Sprechstücke mögen im konzentrierten räumlichen Rahmen von Kammerspiel und Privattheater funktionieren, aber Opern brauchen immer alles: große Bühnen, große Orchester, große Gefühle. Seiner Dimension entsprechend war das Musiktheater immer schon Herrschaftskunst. Früher Hof-, heute Staatsoper. So auch in Stuttgart. Bevor die Pandemie alles zum Schweigen brachte, wurde in der Kulturszene der Neckarmetropole vor allem über eins geredet: die Sanierung des historischen Operngebäudes. Wenn es um Sozialwohnungen oder günstigen Nahverkehr geht, gibt man sich im Daimlerland ja meist knauserig. Für die Um- oder Neugestaltung des wilhelminischen Protzbaus am Stuttgarter Eckensee dagegen wollen Teile der grünlich-neoliberalen Stadtelite Summen von bis zu einer Milliarde Euro lockermachen.

Mitten in diese Diskussion, die nach Ansicht mancher Beobachter auf ein neues Stuttgart 21 zusteuert, kommt nun Alexander Kluge hereingeplatzt. Für den Württembergischen Kunstverein (WKV) in Stuttgart hat der Autor und Filmemacher eine multimediale Rauminstallation geschaffen, in der die Kunstform Oper so grandios wie grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt wird.

Als Sohn eines Theaterarztes ist Kluge mit Mozart und Bellini quasi aufgewachsen, viele Opern hat er als Filmer oder Dokumentar begleitet. Gleichwohl weiß der Adept der kritischen Theorie von Theodor W. Adorno, dass man der Emotionsmaschinerie von Liebestod und blitzenden Sternen nicht trauen darf. Bekanntlich sind viele Opern mit patriarchalen, nationalistischen und kolonialen Denkmustern durchsetzt.

Diese linke Kritik am Allerheiligsten großbürgerlicher Kultur wäre im Grunde nichts Neues. Doch Kluge will nicht in den Chor derer einstimmen, die Verdi oder Puccini als Rosamunde Pilcher für Besserverdienende abtun. Denn er glaubt an eine »Intelligenz der Gefühle«. Die, so heißt es im Begleitheft, könne helfen, »einen Gegenalgorithmus gegen die Macht des Faktischen und die Übermacht des Objektiven herzustellen«.

Als öffentliche Kunstform ist die Oper für Kluge kein teures, kitschiges und veraltetes Vergnügen. »Tempel der Ernsthaftigkeit« überschreibt der 1932 geborene Allround-Intellektuelle sein Projekt. Er erkennt in der Oper die beinah letzte Trutzburg für Selbstreflexion und Ideologiekritik im Digitalzeitalter. Sechs Stunden »Tristan und Isolde« verlangen schließlich einen längeren Gehirnatem als Instagram-Filmchen oder Twitter-Nachrichten.

Wie nun gelingt es Kluge, das umzusetzen? Sein kreisförmig geführter Parcours umringt den Besucher mit neun Video-Stationen. Opernvideos (die meisten von Kluge selbst gedreht), Spielfilme und Interviews flimmern über unzählige Monitore. Mitten im Raum dagegen stehen auf altmeisterlich getrimmte Pappkameraden: die Tintoretto nachempfundenen Figuren gehören zum Bühnenbild für Jossi Wielers Inszenierung der Oper »Berenike, die Königin von Armenien« von Niccolò Jommelli. Im 18. Jahrhundert wirkte der neapolitanische Komponist am württembergischen Hof Carl Eugens; 2015 wurde seine frühklassizistische »Berenike« von Wieler für die Stuttgarter Staatsoper wiederentdeckt.

Doch über diesen lokalhistorischen Bezügen sollte man nicht vergessen, dass Kluge aufs Ganze geht, so brüchig die aus immenser Recherchewühlkraft entstandene Collage auch anfangs wirkt. Erst ein Mozart-Häppchen, dann ein Monteverdi-Häppchen und viele, viele Wagner-Häppchen. So wie ein Molekularbiologe Gewebeproben erst zerstückeln muss, damit die Erbinformation lesbar wird, hat auch Kluge sein Material in Fragmenten aufbereitet, um bestimmte Themenstränge herauszuarbeiten. Der wichtigste: Macht und Gewalt. Sie bilden den ewigen Stachel im rosaroten Opernfleisch.

Kluges dekonstruierte Gattungsgeschichte lockt das wahre Phantom der Oper, den Krieg, aus seinen Katakomben. Lohengrins Schwan endet als Gerippe mit umgedrehtem Hals, Madame Butterflys erwachsener Sohn steuert die Kampfflugzeuge der US-Armee gen Japan. Bezeichnenderweise ist ausgerechnet die Partitur der ersten deutschsprachigen Oper, Heinrich Schütz’ »Dafne«, im Dreißigjährigen Krieg verbrannt.

Die assoziativen Bögen spannen sich mitunter etwas zu weit, doch das Medien-Urgestein Kluge bewies schon mit seiner Kultsendung »10 vor 11« auf RTL, dass sich hohes Abstraktionsniveau und gute Unterhaltung nicht ausschließen. Weswegen er für die WKV-Ausstellung auch Blödelgenie Helge Schneider ins Boot geholt hat. Mit Eisernem Kreuz am Hals spielt der begabte Parodist einen Offizier aus dem Ersten Weltkrieg, der ein Spezialfernrohr erfunden hat. Der magische Feldstecher verwandelt Kampfhandlungen in ästhetische Ereignisse. Die Schlacht im Hintergrund, nuschelt Schneider unter seinem Stahlhelm dem im Off sitzenden Kluge zu, sehe plötzlich aus wie »Schwanensee«. Das ist zwar streng genommen ein Ballett, trotzdem macht die Szene deutlich, was die Ausstellung will: Sie will uns die Operngläser von den Augen reißen. Für einen neuen, ungeschönten Blick auf die großen Bühnen, die großen Orchester und die großen Gefühle.

»Alexander Kluge. Oper: Der Tempel der Ernsthaftigkeit«, bis 14. Juni, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, Schlossplatz 2.

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