52-mal Trunkenheit

Philologen zählen Erbsen: Im Marbacher Literaturmuseum verlieren Hölderlin und Celan ihre historische Widerständigkeit

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 4 Min.

Lebenswege sind Lesewege. Und dem letzten Buch, dem jemand die endende Zeit widmet, kommt fast immer eine besondere Bedeutung zu. Als Paul Celan im Frühjahr 1970 die Pariser Wohnung verließ, um sich in die Seine zu stürzen, blieb auf seinem Schreibtisch Wilhelm Michels damals schon nicht mehr ganz aktuelle Biografie von Friedrich Hölderlin liegen. Aufgeschlagen auf Seite 464/465. War es also jener verkrachte Theologiestudent aus Tübingen, der mutmaßlich die Gattin seines Arbeitgebers schwängerte und darüber erst den Hauslehrerjob und dann den Verstand verlor, unter dessen Leitstern Celan sein eigenes Schreiben für die Nachwelt gestellt sehen wollte?

Das dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach angeschlossene Literaturmuseum der Moderne überkreuzt nun Werk und Resonanz der zwei Dichter. Beide stehen in diesem Jahr auf dem Gedenktagskalender: Hölderlin, das nach Schiller wichtigste literarische Landeskind Baden-Württembergs, wurde vor 250 Jahren im Neckarstädtchen Lauffen geboren. Celan, vor 50 Jahren gestorben, kam vor 100 Jahren in der heutigen Ukraine zur Welt. Dass der Großteil seines Nachlasses in Marbach lagert, macht auch den innerlich heimatlosen Deutsch-Juden Celan postum zum Schwaben.

Doch existiert über die äußeren Berührungen hinaus ein tieferes Band, das die von den Zeitläuften Getrennten verbindet? Ausstellungsleiterin Heike Gfrereis behandelt beide Autoren als beispielhaft für Entstehen und Wirken der Wortkunst, wobei sich die kuratorische Aufmerksamkeit nicht paritätisch verteilt. Sind es doch vor allem Hölderlins Verse, die man den Besuchern des Literaturmuseums an die Wände schreibt, in Manuskripten auslegt oder aus becherartigen Schalltrichtern als Hörtext präsentiert.

Gfrereis vertritt die These, dass Poesie toten Bleisatz in eine lebendige, physische Erfahrung verwandelt. Anders als bei Prosa wandern die Augen nicht nur von links nach rechts, sondern springen kreuz und quer über die Seite. Atmung, Puls und Stimmlippe - der ganze Körper schwingt mit im Rhythmus der gebundenen Rede. Zentrales Demonstrationsobjekt in Marbach ist eine hölzerne Soundmaschine, die Hölderlins bekanntes, kurz vor dem Zusammenbruch geschriebenes Gedicht »Hälfte des Lebens« in seine phonetischen Einzelteile zerlegt. Die Register der Vokal- und Konsonantenorgel darf man selbst ziehen, um sich dem Hölderlin’schen Schwanengesang so über seine kleinsten lautlichen Baueinheiten anzunähern.

Überhaupt ist die Schau durch und durch Philologenwerk. Mit naturwissenschaftlicher Akribie werden da Wörter isoliert und in analytischen Listen nebeneinandergestellt. 867-mal sagt der Dichter »ich«, 87-mal redet er von »Gott«, 52-mal ist irgendwer oder irgendetwas »trunken«. Erforderten solche Konkordanzen früher viel Bienenfleiß, erledigt sich die literaturwissenschaftliche Statistikarbeit dank der Digitalisierung mittlerweile ruckzuck.

Doch leider tut die Marbacher Erbsenzählerei den Autoren keinen Gefallen. Wem hilft der mikrostilistische Befund, dass ein typisches Hölderlin-Poem aus Sätzen von durchschnittlich 30 Wörtern besteht? Veranschaulicht im visuellen Sinne wird wenig. Franz Karl Hiemers Hölderlin-Porträt aus dem Jahr 1792 ist eines der seltenen bildnerischen Exponate, die den Texten zur Seite treten, ihnen ein Gesicht geben.

Wie der gleichwohl informative Katalog betont, gehören Oxymora, also sich selbst widersprechende Begriffsverbindungen, zu den prägendsten Merkmalen von Hölderlins Dichtung: »heilignüchtern«, »traurigfroh«, »dunkles Licht«. Gerade hierüber hätte sich ein Brückenschlag zu Celan angeboten. Denn auch er ersann immer wieder Konstrukte, die jeder allerweltslogischen Auflösung trotzen, aber umso mehr Assoziationen anstoßen, etwa mit der »schwarzen Milch« aus dem ergreifenden Auschwitz-Gebet der »Todesfuge«.

Sie hätten als Verwandte in der poetischen Zerrissenheit erscheinen können. Der prekär beschäftigte Hauslehrer Hölderlin, dem fehlende materielle Mittel und gesellschaftliche Konventionen das reale Liebesglück unmöglich machten, ebenso wie der Holocaust-Überlebende Celan, der letztlich an der Ignoranz der Nachkriegsgesellschaft zerbrach. Beide spürten die Widersprüche ihrer Zeit, aber zumindest im Traum der lyrischen Gegenrede setzten sie an, die Verhältnisse zu überwinden. Dabei hätte man gar nicht zwangspolitisieren und beispielsweise aus Hölderlins arkadischen Gesängen jakobinisch-frühsozialistisches Ideengut heraushorchen müssen, was besonders im 1968er-Überschwang populär war. Doch indem die Jubiläumsdoppelschau all jene Verhandlungen ausblendet, die die Texte mit ihren Epochen führen, raubt sie dem einen wie dem anderen Autor die historische Widerständigkeit und, schlimmer noch, sein utopisches Potenzial. Schade in einer Zeit, die Utopien dringend nötig hätte.

Ausstellung »Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie«, bis 1. August im Marbacher Literaturmuseum

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