Der westliche Überlegenheitsdünkel

Zwei Anmerkungen zu den Beziehungen zwischen Deutschland und China

  • Wolfram Adolphi
  • Lesedauer: 7 Min.

Gelegentlich hört man, dass die diplomatischen Beziehungen zwischen China und Deutschland 47 Jahre alt seien. Andere meinen, man müsse von rund 70 Jahren sprechen. Ich bin - und sage das auch meinen chinesischen Partnerinnen und Partnern immer wieder - in dieser Frage kleinlich. Ich lege also Wert darauf, dass wir tatsächlich von gut 70 Jahre sprechen, denn die DDR hat bereits 1949 solche Beziehungen mit der Volksrepublik China aufgenommen. Und zwar unter Bedingungen, da beide Staaten ein solches Signal internationaler Unterstützung dringend brauchten.

Das ist selbstverständlich keine Frage am Rande, sondern eine der historischen Wahrhaftigkeit bei der Betrachtung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie offenbart den tiefen Riss, der nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Welt ging, und sie macht deutlich, dass die Grenze zwischen der DDR und der BRD eben nicht - wie mit zeitgeistiger Selbstverständlichkeit immer wieder gern behauptet wird - eine innerdeutsche, sondern eine zwei konträre Weltsysteme voneinander trennende war.

Zur Person

Wolfram Adolphi, Jahrgang 1951, ist Staatswissenschaftler und beschäftigt sich seit Mitte der 70er Jahre mit Geschichte und Gegenwart Chinas und sowie den deutsch-chinesischen Beziehungen. Neben dem politischen Publizismus ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte in den letzten Jahren den dreibändigen Roman »Hartenstein«.

Die DDR stand an der Seite der Volksrepublik China, die BRD an der Seite Taiwans. Die DDR - selbstverständlich im Bündnis mit der UdSSR - stand an der Seite der chinesischen Revolution; die BRD - ebenso selbstverständlich im Bündnis mit den USA - an der Seite des Antikommunisten und Konterrevolutionärs Tschiang Kaischek (Jiang Jieshi). Der war vor der Volksrevolution nach Taiwan geflohen und erhob dort - in jeder Hinsicht durch die USA gestützt - den Anspruch, die 1911 gegründete Republik China fortleben und als einzigen legitimen Staat der Chinesen in der Welt anerkennen zu lassen.

Die gegensätzlichen Positionen hatten nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Effekte. Im Korea-Krieg von 1950 bis 1953 blutete die DDR-Wirtschaft - der 17. Juni 1953 steht in einem engen Zusammenhang mit dem zuvor seitens der UdSSR gegenüber der DDR geltend gemachten Fortdauern der Reparationsleistungen. Die BRD hingegen, von allen Reparationsleistungen befreit und durch den Marshallplan ohnehin befeuert, erlebte (wie übrigens auch der ehemalige Deutschland-Verbündete Japan) dank des massenhaften Waffen- und Munitionsbedarfs der USA ihren ersten Nachkriegsboom bei Eisen und Stahl.

In der auch heute in China wieder als erfolgreich geltenden Entwicklungsphase bis 1958 war die DDR ein durch vielfältige politische, wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen mit dem Land verbundener Partner der Volksrepublik, die BRD hingegen Bestandteil der Anti-Rotchina-Front. Das änderte sich erst - und zwar im Rahmen weltweiter Verschiebungen des Kräfteverhältnisses - 1972. Ein Jahr zuvor hatte sich die UNO entschlossen, nicht mehr Taiwan, sondern die Volksrepublik China als ihr legitimes Mitglied anzuerkennen. 1973 wurden die DDR und die BRD gleichzeitig in die UNO aufgenommen.

Dies alles hing zusammen mit der für die US-Politik überaus einschneidenden, Ende der 60er Jahre manifest werdenden Erkenntnis, dass der Vietnam-Krieg nicht gewonnen werden konnte und daher eine Umsteuern in der China- und in der Sowjetunion-Strategie unumgänglich war. Historische Wahrheit bleibt: Die DDR hat - mit der UdSSR - an der Seite Vietnams gestanden, die BRD an der Seite der einen schmutzigen Krieg führenden USA.

Wenn man heute darüber reden will, wie die künftigen deutsch-chinesischen oder auch der europäisch-chinesischen Beziehungen aussehen sollten, muss man an die Wurzel des Themas gehen. Und diese Wurzel heißt: Der rasante Aufstieg Chinas zur Weltmacht bedeutet nicht eine Herstellung von Unnormalität, sondern von Normalität. Mit seiner jetzigen Entwicklung wächst China (wieder) in diejenige Rolle hinein, die ihm global gesehen zukommt. Ein Land, dessen Bevölkerung rund ein Fünftel der Menschheit darstellt, hat - menschheitlich gesehen - selbstverständlich ein viel größeres Gewicht als eines, das - wie Deutschland - ein Hundertstel dieser Menschheit abbildet.

In den vergangenen 200 Jahren wurde das in den westlichen Zentren des Kolonialismus und Imperialismus konsequent anders gesehen. Es herrschte die Auffassung, man habe, weil einem die Entwicklung der Produktivkräfte einen Vorsprung verschafft hatte, alles Recht der Welt, das schon damals weitaus größere und bevölkerungsreichere China zum Objekt unbegrenzter Ausbeutung zu machen.

Ihre Rechtfertigung fand diese Auffassung nicht in demokratischen, sondern in rassistischen, chauvinistischen und nationalistischen Gesellschaftsauffassungen, die sich in einem gewaltigen Überlegenheitsdünkel vereinigten. Im 17. Jahrhundert - zu Zeiten von Gottfried Wilhelm Leibniz, der sich der Größe und Bedeutung Chinas im Weltgeschehen sehr wohl bewusst war - hatte es diesen Dünkel noch nicht gegeben. Nun aber haben wir es mit seinem verheerenden Erbe zu tun. Dessen integraler Bestandteil ist es, den westlichen Herrschern sehr grundsätzlich den Blick dafür verstellt zu haben, dass die Überlegenheit keine ewige sein werde. Dass man also schon in der Zeit der Überlegenheit den Unterlegenen hätte ernst nehmen und auf zukunftsträchtigen Ausgleich mit ihm hätte bedacht sein müssen. Darin hätte sich wahre Überlegenheit erweisen können.

Tatsächlich aber vernichtete der politische, wirtschaftliche und kulturelle Imperialismus jede Idee des Ausgleichs schon im Keim. Wer im Westen nahm die Volksrepublik China schon ernst, als sie Mitte der 1950er Jahre ihre Idee der friedlichen Koexistenz entwickelte?

Nun ist das Dilemma unübersehbar geworden. Den im Westen verachteten, verspotteten und von ihm mit komplexen internationalen Strategien bekämpften Sozialismus sowjetischer Prägung über Bord werfend, ließ China einer westlich-kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung freien Lauf, die mit ihrer aus schierer Größe erwachsenden Wucht selbstverständlich den Westen übertrumpfen muss. Zumal sie sich mit einer Staatsform und Herrschaftsordnung kombiniert, die sich - Sozialismus chinesischer Prägung genannt - im Sinne gesamtwirtschaftlicher Effizienz als überlegen erweist.

Dennoch bleibt der Westen in seinem Überlegenheitsdünkel befangen. Und glaubt daher, man könne dem Aufstieg Chinas mit den Methoden und Mitteln der klassischen imperialistischen Konkurrenz begegnen: Wirtschaftskrieg, Propagandakrieg, Aufrüstung. Und dazu - nicht klassisch, aber alles durchdringend - Cyberkrieg.

An dieser Stelle ist ein Wort zur westlichen Demokratie vonnöten. Sie ist - ihre Vorteilhaftigkeit für einen großen Teil der westlichen Bevölkerung außer Frage gestellt - niemals exportiert, niemals zur Bedingung globalisierten Wirtschaftens gemacht worden. Im Gegenteil: Die kapitalistische Globalisierung baute bisher stets auf jene Expansionsräume für das Kapital, die eben gerade nicht durch demokratische Teilhabe, komplexe Regulierung des Umweltschutzes oder gewerkschaftliche Mitbestimmung charakterisiert sind. Und dass die westliche Demokratie seit dem Zusammenbruch des sowjetisch-osteuropäischen Sozialismus auch in den kapitalistischen Hauptländern selbst immer weniger auch als Wirtschaftsdemokratie zutage tritt, kann niemand verborgen bleiben.

Warum dies betont werden muss? Weil es die Fragwürdigkeit einer Politik offenlegt, die diese Demokratie im Konflikt mit China zum Kampfinstrument zu machen versucht. Auch da lebt sich der Überlegenheitsdünkel aus. Ebenso in der Einbildung, die Chinesen kennten all diese Gebrechen nicht, wüssten nicht um all diese Demokratieprobleme.

Ich werbe seit vielen Jahren dafür, den unaufhaltsamen Aufstieg Chinas endgültig zum Anlass für eine komplexe Umgestaltung der internationalen Beziehungen zu nehmen. Also: die Erde endlich menschheitlich zu betrachten und die Weltgesellschaft entsprechend menschheitlich zu organisieren. Eine Fortsetzung der kriegsbereiten Konkurrenz verschiedener Weltteile gegeneinander wird unweigerlich in die Katastrophe führen. Und selbst wenn sie nicht in große Kriege mündet, so wird sie doch eine sinnlose Verschwendung der so deutlich und schnell knapper werdenden Ressourcen bedeuten und damit neue Konfliktherde bisher ungeahnten Ausmaßes schaffen.

Dies alles ist - selbstverständlich - nicht neu. Das Wirken des Club of Rome in den 70er Jahren, der von der sowjetischen Perestroika beflügelte Aufruf der norwegischen Ministerpräsidentin von Gro Harlem Brundtland im Januar 1989 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, eine weltweite Perestroika in Angriff zu nehmen, und auch die Weltsozialforen des ersten Jahrzehnts der 2000er Jahre stehen für ein seit mindestens fünf Jahrzehnten immer wieder neu belebtes Ringen um solch einen Neuanfang.

Die chinesischen Vorschläge dazu, wie sie sich in den Gedanken von einer harmonischen, friedlichen Welt spiegeln, werden im Westen auf lange geübte - und eben: dünkelhafte - Weise ignoriert. Weder werden sie gründlich bekannt gemacht, noch werden sie angemessen erörtert. An Stoff für einen neuerlichen Dialog zum Thema Europa und Asien ist kein Mangel.

Der Text ist die leicht bearbeitete Fassung eines Vortrags, den Adolphi auf einer Konferenz des außenpolitischen Journals »Welttrends« zum Thema »Zwischen Kooperation und Konkurrenz: Europa und Asien im 21. Jahrhundert« hielt. Damit setzt »nd« eine Debatte zur Entwicklung in China fort. Bisher erschienen dazu: »Das Gerede von der chinesischen Seuche« von Hans Modrow (12.5.), »Es genügt nicht, Gegner der USA zu sein« von Wulf Gallert (22.5.), »Nicht Peking ist der Bösewicht« von Uwe Behrens (2.6.) und »Großmächte im Umbruch« von Kai und Lutz Kleinwächter (9.6.).

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