Im Ausnahmezustand

Polizisten versagen oft im Umgang mit psychisch Kranken.

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 18. Juni wurde Mohamed Idrissi in Bremen-Gröpelingen von einem Polizisten in den Oberkörper geschossen und tödlich verletzt. Zuvor hatte eine Besichtigung der Wohnung des 54-Jährigen stattgefunden, gemeinsam mit einer Vertreterin der Vermietungsgesellschaft Espabau und zwei Polizeibeamten. Die Wohnung war dem aus Marokko stammenden Mann zuvor gekündigt worden, da er Wasserschäden verursacht haben soll. Der Termin soll reibungslos verlaufen sein, nur einer war nicht erschienen: der Betreuer von Idrissi.

Betreuung bedeutet aber: Jemand kann seine Angelegenheiten nicht mehr allein regeln, bei größtmöglicher Selbstbestimmung soll der Betroffene genügend Schutz und Hilfe erhalten. Eine Betreuung wird bei bestimmten psychischen Erkrankungen eingerichtet. Der Vermietungsgesellschaft war bekannt, dass es eine Betreuung gab. Ob die Einbeziehung der Polizei bei der Wohnungsbesichtigung mit der psychischen Erkrankung von Idrissi begründet wurde, konnte bis Redaktionsschluss nicht geklärt werden. Die Espabau beantwortete eine entsprechende nd-Anfrage nicht.

Nach der Besichtigung sollte der psychisch kranke Mann zu einer Untersuchung durch den sozialpsychiatrischen Dienst auf eine Polizeiwache gebracht werden. Ein ungewöhnliches Vorgehen, das von der zuständigen Gesundheitsverwaltung bis Redaktionsschluss auf nd-Anfrage nicht eingeordnet wurde. Jedenfalls lehnte Idrissi es ab, mit auf die Wache zu kommen. Dann hantierte er mit einem Messer und wurde von den Polizisten, inzwischen vier, teils in Zivil, bedrängt. Die Situation wurde durch ein Video bekannt, das Anwohner aufgenommen hatten. Am Ende, nach einem Pfeffersprayeinsatz, rannte Idrissi mit dem Messer auf einen der Polizisten zu. Dann fielen die tödlichen Schüsse. Auf einer Solidaritätskundgebung in Bremen wurde erklärt, dass Anwohner der Polizei angeboten hätten, mit Idrissi zu sprechen - weil er ihnen vertraue. Darauf seien die Beamten nicht eingegangen.

Die mediale Diskussion dreht sich vor allem um den Schusswaffeneinsatz. In Kommentaren von Onlinemedien wird über einsatztaktische Erwägungen der Polizei gestritten. Das Problem ist auf den Punkt »Messer versus Schusswaffe« reduziert, und die Debatte mündet in die Forderung nach Aufrüstung der Polizei mit Tasern, die Elektroschocks auslösen. Dazu läuft ein umstrittenes Modellprojekt bei der Polizei in Bremerhaven. Ärzte warnen davor, dass Drogenabhängige, Menschen mit bestimmter Medikation oder Herzschrittmachern oder auch psychisch Kranke durch einen Tasereinsatz tödlich verletzt werden können. Zwei Todesfälle gab es 2020 bereits in Rheinland-Pfalz und Hessen, in beiden Fällen waren die Opfer geistig verwirrte Männer.

Messer versus Schusswaffe

In der waffenzentrierten Debatte wird die Entstehung der kritischen Situation kaum thematisiert. Und wie schon häufiger, verschwindet des Ereignis bald wieder aus der Öffentlichkeit. Lang andauernde Ermittlungen tragen zum Vergessen bei. Hinzu kommt, dass die Fälle selten sind. Aber eben doch regelmäßig: Im Januar erschoss die Polizei in Berlin eine wegen Drogendelikten bekannte Frau, die ebenfalls mit einem Messer auf die Beamten zuging. Am 8. Mai sahen sich drei Polizisten in Osnabrück von einem 67-Jährigen mit einer Stichwaffe angegriffen und erschossen ihn. Der Mann sollte auf ärztlich Anweisung in die Psychiatrie eingewiesen werden. Am 18. Juni schoss ein Polizist in Meppen im Emsland einem 23-Jährigen aus Guinea in den Oberschenkel. Der Mann erlag später seinen Verletzungen. Zuvor hatte er mehrere Menschen mit einem Messer bedroht, wobei niemand verletzt wurde. Schon 2014 wurde das Problem in einem Aufsatz in der Zeitschrift »Psychiatrische Praxis« erörtert. Ein Rückblick damals zeigte, dass in den sieben Jahren zuvor 16 psychisch Kranke in Auseinandersetzungen mit der Polizei ums Leben gekommen waren.

Dabei ist die Kommunikation mit psychisch Kranken durchaus Gegenstand polizeilicher Ausbildung, allerdings noch nicht verpflichtend, nicht regelmäßig und nicht eindrucksvoll genug. Psychiatrie-Erfahrene, so erklärt Matthias Seibt von deren Bundesverband gegenüber dem nd, sollten sich in diese Ausbildung einbringen können. Sie könnten angehenden Beamten schildern, wie sie sich selbst bei Polizeieinsätzen gefühlt haben. Gelegentlich, so Seibt, würden Verbandsangehörige schon als Referenten eingeladen.

Verhaltensregeln für die Ansprache von Menschen in psychischen Krisen sind durchaus formuliert. So listet etwa Oliver Schönstedt von der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg in einem Fachbuch Folgendes auf: deutliche und verständliche Sprache ohne Negativworte, langsames Sprechen, Blickkontakt halten, reduzierte Gestik. Die Beamten sollten ihr Gegenüber als Mensch ernst nehmen, auch in seinen Wahnvorstellungen. Grundlegend sei es, dass nur ein Ansprechpartner agiert. Zeit nehmen und Distanz wahren - allein nach diesen Maßstäben hätten die Beamten in Bremen etliche Fehler gemacht.

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