»Zwischen zwei Pandemien aufgerieben«

Given Sigauqwe über die Dimensionen der Gewalt gegen Frauen in Südafrika und Präventionsmaßnahmen

  • Christian Selz
  • Lesedauer: 8 Min.

Südafrika ist einmal mehr schockiert über eine Reihe von Morden an Frauen. Präsident Cyril Ramaphosa sagte im Mai: »Männer haben den Frauen in Südafrika den Krieg erklärt.« In seiner jüngsten Rede nannte er Morde an Frauen und Kindern »eine weitere Pandemie, die in unserem Land wütet«. Die Rhetorik spiegelt seine Worte zur Corona-Pandemie wider. Geht die Regierung das Thema sexuelle Gewalt nun mit der gleichen Dringlichkeit an?

Was der Präsident den vergangenen Monat über gesagt hat, darauf weisen wir seit Langem hin. Frauen werden zwischen zwei Pandemien aufgerieben. Geschlechtsbezogene Gewalt ist weit verbreitet in Südafrika und viele Frauen und Kinder nutzen die Schule und den Arbeitsplatz als Schutz, als Orte der Zuflucht. Und dann kam die Covid-Pandemie mit den Restriktionen, die vorschreiben, dass die Leute zu Hause bleiben sollen. Das führte dazu, dass sie geschlechtsbezogener Gewalt stärker ausgeliefert waren. Das haben wir schon sehr früh im Lockdown klar angesprochen. Wir können die Regierung für ihre Entschlossenheit bei der Bekämpfung von Covid-19 loben, aber wir sind etwas enttäuscht davon, dass der gleiche Enthusiasmus nicht auch bei der Eindämmung von geschlechtsbezogener Gewalt zu sehen ist. Covid kam im März ins Land, aber geschlechtsbezogene Gewalt gab es, seit es Menschen gibt. Die Regierung hat uns gezeigt, dass sie in der Lage ist, im Angesicht einer Pandemie entschlossen zu handeln, und wir würden gern die gleiche Entschlossenheit sehen, wenn es um die Pandemie geschlechtsbezogener Gewalt geht.

Im Interview

Given Sigauqwe ist Sprecher der südafrikanischen Nichtregierungsorganisation Sonke Gender Justice, die sich für Geschlechtergerechtigkeit einsetzt. Über Femizide und Vergewaltigungen in Südafrika - und den Kampf gegen die Ursachen - sprach mit ihm für »nd« Christian Selz in Kapstadt.

Sie sprechen den Lockdown an. Der Präsident hat sexuelle Gewalt gerade mit der Lockerung der Beschränkungen und der Aufhebung des Alkoholverbots verbunden. Wie viel davon ist wahr und zu welchem Teil ist es eine einfache Antwort?

Jede vernünftige Analyse geschlechtsbezogener Gewalt muss von dem Verständnis ausgehen, dass die Gründe vielschichtig sind. Ich denke, es ist nicht unaufrichtig, einen sozialen Faktor herauszupicken und das Problem darauf zu beschränken. Um es am Beispiel Alkohol zu erklären: Es ist unbestreitbar und durch Studien belegt, dass es einen Zusammenhang zwischen Alkoholmissbrauch und geschlechtsbezogener Gewalt gibt. Aber wenn wir den Alkohol herausnehmen, dann bleibt die geschlechtsbezogene Gewalt trotzdem, weil Alkohol nur ein Faktor von vielen ist. Alkohol spielt definitiv eine Rolle, aber um geschlechtsbezogene Gewalt einzudämmen, muss man verstehen, dass Alkohol neben patriarchalen Strukturen, neben toxischer Männlichkeit, neben der Kultur eine große Rolle spielt.

Der Dreh, das Problem mit der Lockerung des Lockdown in Verbindung zu setzen, lässt es fast so aussehen, als stünden wir jetzt vor einem neuen Phänomen.

Ja, ja, ja!

Im vergangenen Jahr wurde Uyinene Mrwetyana, eine 19-jährige Studentin, in einer Postfiliale ermordet, ungefähr einen Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Damals zogen Demonstranten vor das Kapstädter Kongresszentrum, wo Präsident Ramaphosa gerade Gastgeber eines Treffens des Weltwirtschaftsforums war. Die Antwort der Polizei waren Wasserwerfer und Schockgranaten, aber anschließend war der Präsident gezwungen, mit klaren Worten gegen sexuelle Gewalt einzutreten. War das ein Moment, der etwas verändert hat? Folgten seinen Worten Taten?

Wenn Sie die Arbeit von Sonke Gender Justice oder anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen in Südafrika verfolgt haben, dann wissen Sie, dass wir seit Jahren einen Nationalen Strategieplan zu geschlechtsbezogener Gewalt und Femiziden fordern. Und heute bin ich froh darüber, dass dieser Plan endlich finalisiert worden ist. Jetzt ist es dringlicher denn je, dass wir sicherstellen, dass dieser Nationale Strategieplan kein theoretisches Journal bleibt. Wir müssen dafür sorgen, dass er zu bedeutenden und effektiven Präventionsmaßnahmen führt.

Was sind die Schlüsselpunkte des Plans?

Er ist auf fünf Hauptbereiche fokussiert, unter anderem geht es stark um die ökonomische Stärkung von Frauen, damit wir von der Abhängigkeit der Frauen von Männern wegkommen. Aber es geht auch um Themen wie den Zugang zur Justiz und um Arbeit zur Veränderung sozialer und geschlechtsbedingter Normen.

Neben den staatlichen Interventionen: Wie begegnen Organisationen wie Sonke Gender Justice der Krise?

Wir konzentrieren uns stärker auf Ursachen und Prävention. Ich habe das in den vergangenen Wochen immer wieder angesprochen, dass wir von Mechanismen wegkommen müssen, die erst im Nachhinein greifen. Der Präsident sprach von härteren Strafen. Härtere Strafen bedeuten aber, dass jemand das Verbrechen bereits begangen hat. Das nützt nichts, um geschlechtsbezogene Gewalt vorbeugend zu verhindern. Wir können ein oder zwei Menschen abschrecken, aber deswegen verhindern wir nicht, dass es passiert. Es ist fast so, als würden wir uns darauf vorbereiten, dass Frauen gewaltsam getötet werden, und dann halten wir Mechanismen bereit, die anschließend greifen.

Wie arbeiten Sie?

Bei Sonke Gender Justice drehen sich unsere Workshops und unsere Aktivitäten darum, über die Ursachen von geschlechtsbezogener Gewalt und über Präventionsmöglichkeiten aufzuklären. Denn man kann nur etwas verhindern, wenn man versteht, wodurch es verursacht wird. Einer unserer wichtigsten Bereiche ist daher, beispielsweise dem Patriarchat und toxischen Gendernormen entgegenzuwirken. Auch Männer sind nämlich nicht nur Nutznießer des Patriarchats. Der gemeinsame Nenner ist, dass die Opfer, ob männlich oder weiblich, unter der Gewalt eines Mannes leiden.

Sie arbeiten daher mit Männern und Frauen.

Ja, wir arbeiten mit Männern und Frauen und wir arbeiten auch mit Jungs. Es ist wichtig für Männer, sich selbst in die Verantwortung zu nehmen. Es gibt viele Männer, die sich gegen ihre Verantwortung wehren, diese Plage zu beenden, aber die Realität ist, dass wir als Männer meistens schuldig sind. Ob wir die Waffe in der Hand halten oder nicht, aber durch die Art und Weise, wie wir uns verhalten und wie wir einander befähigen, anstatt uns für toxisches Verhalten mit Verachtung zu behandeln. Wir sollten in die Verantwortung genommen werden.

Sehen Sie in ihrer Arbeit denn, dass sich Denkweisen verändern?

Es gibt Veränderungen im Denken, aber nicht in dem Maße, das man erwarten würde. Aber wir müssen auch verstehen, dass wir in der Arbeit mit Männern Jahre kultureller Praxis und kulturellen Glaubens herausfordern. Und die überwindet man nicht über Nacht. Deswegen machen wir unsere Workshops nicht einmalig, sondern wir veranstalten immer mehrere, damit wir Männern letztendlich helfen können, ihr toxisches Verhalten mit der Zeit zu verlernen.

Sprechen wir über das Ausmaß: Die BBC hat vor Kurzem berichtet, dass in Südafrika jährlich 2700 Frauen ermordet werden. Täglich werden etwa 100 Frauen vergewaltigt. Diese Statistiken sind selbstverständlich immer problematisch, aus vielerlei Gründen, viele Fälle werden beispielsweise gar nicht angezeigt. Aber wenn wir damit arbeiten: Als Ursache wird häufig eine patriarchale Gesellschaft genannt - aber die haben wir in den meisten Ländern rund um die Welt. Was sind die Umstände, die es in Südafrika schlimmer machen und zu solch enormen Zahlen führen?

Wie ich schon sagte, jede sinnvolle Intervention gegen geschlechtsbezogene Gewalt muss meiner Meinung nach die vielzähligen Faktoren einbeziehen. Patriarchat, toxische Männlichkeit, Kultur - und Ungleichheit zwischen den Geschlechtern.

Ich finde es interessant, dass auch sie den Elefanten im Raum nicht erwähnen, den Ramaphosa ebenfalls gemieden hat: Gibt es eine Zurückhaltung, das Erbe der Apartheid anzusprechen, weil das als einfaches Wegschieben des Problems gesehen würde? Oder spielt es wirklich keine Rolle mehr?

Meine Zurückhaltung hat nicht nur damit zu tun, die Schuld auf das Apartheidsystem zu lenken, sondern ich halte auch nicht sonderlich viel von Zahlen. Denn es gibt eine Vielzahl an Gründen, warum Statistiken so oder so aussehen. Das Problem der nicht angezeigten Fälle haben Sie ja schon angesprochen. Ich würde daher nie sagen, dass es jetzt mehr oder weniger Fälle sexueller Gewalt gibt als vor zehn Jahren. Zum Apartheiderbe: Es gibt viele Menschen, die es auf Gewalt beziehen und sagen, es ist ein Trauma aufgrund von Gewalt in der Vergangenheit. Um ehrlich zu sein: Wir haben diesen Zusammenhang nie besonders stark hervorgehoben, weil auch das auf eine unnütze Fixierung auf Zahlen hinausläuft, wie hoch sie waren oder sind. Für uns ist schon ein Fall von geschlechtsbezogener Gewalt zu viel und gehört verurteilt.

Selbstverständlich. Aber wenn man eine Krise lösen will, muss man doch an die Wurzeln gehen und der neue Nationale Strategieplan versucht das ja auch, indem er die zugrunde liegenden wirtschaftlichen Faktoren angeht. So sollen die Frauen ökonomisch gestärkt werden. Und zu einem großen Teil wurzelt die strukturelle Benachteiligung in der Geschichte des Landes. Kann die Pandemie geschlechtsbezogener Gewalt deshalb überhaupt bekämpft werden, ohne die dritte »Pandemie« anzugehen, die von extremer Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Armut?

Ungleichheit zu bekämpfen, da haben Sie recht, ist einer der fünf Punkte des Nationalen Strategieplans. Patriarchale Strukturen durch das Erreichen von Gendergleichheit und Gendertransformation zu bekämpfen, gehört zu unseren wichtigsten Prinzipien. Denn dort wo das Patriarchat verankert ist, sehen Männer Frauen nicht als gleichberechtigt. Und sobald man anfängt, jemanden nicht als seinesgleichen zu sehen, führt das zu Dominanz oder sogar Besitzdenken. Zentraler Teil unserer Arbeit ist es daher, Männer realisieren zu lassen, dass Frauen und Männer auf einer Stufe stehen und Frauen daher nicht Besitz von Männern sind. Und wir tun das, weil das Patriarchat das Gegenteil behauptet. Das Patriarchat hält Frauen für schwächer, es sagt, Frauen müssten von Männern versorgt werden. Das Patriarchat erlaubt es Männern zu sagen: »Das sind unsere Frauen.« Ich fand das interessant, kürzlich Männer zu sehen, die demonstrieren und fordern: »Schützt unsere Frauen.« Frauen brauchen keinen Schutz, Frauen müssen einfach nur von Männern in Ruhe gelassen werden. Und sie sind auch nicht unsere Frauen, wir besitzen keine Frauen.

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