Reale Chancen - bei gutem Willen allerseits

Omri Boehm erinnert an eine Utopie, die in Israel leider vergessen ist

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Schlag sitzt, den diese Utopie austeilt. Es geht um Israel, um das Erwachen aus dem Traum von einer Zwei-Staaten-Lösung nach dem von Omri Boehm für tot erklärten Oslo-Abkommen. Es geht um den Widerspruch zwischen einem jüdischen Staat und einer liberalen Demokratie für alle - angesichts etwa einer Hälfte nicht-jüdischer Einwohner in Israel. Es geht um Zionismus, um das aus dem Holocaust abgeleitete jüdische Selbstverständnis des Staates Israel und die «Nakba», die Umsiedlung bzw. Verdrängung und Vertreibung der Palästinenser nach der Gründung Israels und um die Siedlungen auf eroberten und besetzten Territorien.

Der Autor dieser real ausbuchstabierten Utopie ist 1979 in Haifa geboren. Ein israelischer Jude mit deutscher Staatsangehörigkeit, der in Tel Aviv studiert hat und in Yale über «Kants Kritik an Spinoza» promovierte. Er bekennt sich zu seiner «bildungsdeutschen jüdischen Großmutter und einem traditionsverhafteten iranischen jüdischen Großvater». Er hat beim israelischen Geheimdienst Shin Bet gedient und ist heute Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York.

Der Kant-Forscher ist sich bewusst, dass «Demokratie keine Frage der Natur oder der Geschichte und aus diesem Grunde nicht zwangsläufig» sei. Sie müsse stetig «durch öffentliches Handeln erreicht werden und sei deshalb »alles andere als gesichert«. Aus diesem Grunde ermutigt er vor allem deutsche Intellektuelle, ihre verständliche Zurückhaltung bei der Kritik an israelischer Politik im Sinne der Aufklärung aufzugeben. Kant habe energisch »den öffentlichen Gebrauch der eigenen Vernunft« gefordert.

Boehm ist der Auffassung, dass Israel nicht als ein über jegliche Kritik erhabener Staat behandelt werden sollte, der seine Politik mit einem »quasi sakralisiertes Holocaust-Gedenken« legitimiert. Wenn für die deutsche Bundeskanzlerin die Anerkennung der Existenz Israels zur »deutschen Staatsraison« gehöre, gelte dies nicht für die Hälfte der israelischen Bürger, die vom Holocaust nicht in gleicher Weise wie deren jüdischer Teil betroffen ist. Der Autor blickt in die Geschichte des Zionismus zurück und bestreitet, dass von Anfang an ein jüdischer Staat unter Ausschluss der in Palästina ansässigen Bevölkerung beabsichtigt war. Die Austreibung der Palästinenser sei erst von der britischen Mandatsmacht ins Spiel gebracht und vom Staatsgründer Ben Gurion aufgegriffen worden.

Die »Nakba«, die teils unter brutaler Anwendung von Gewalt erfolgt war, wird von der palästinensischen Bevölkerung Israels und den Vertriebenen sowie den arabischen Nachbarn noch heute sehr stark erinnert. Hier hatten die Jahrzehnte andauernden mörderischen Auseinandersetzungen und Kriege ihren Ursprung. Die fortdauernde Besiedlung von nicht zum ursprünglichen Territorium Israels gehörenden Territorien durch jüdische Israelis verschärft die Situation.

Der 1993 eingeleitete Oslo-Friedensprozess mit seiner Zwei-Staaten-Lösung gilt allgemein als gescheitert. Boehm sieht als einzige Option für eine demokratische Zukunft Israels eine binationale Lösung. Für die greift er auf einen 1977 vorgelegten Plan der israelischen Regierung unter Menachem Begin zurück, der heute selbst in Israel kaum mehr bekannt ist, weshalb er im Buch im Wortlaut wiedergegeben wird. Die Vision ist zwar »utopisch«, aber dennoch konkret ausformuliert und hätte bei gutem Willen auf allen Seiten reale Chancen. Der Plan sah Selbstverwaltung in beiden Landesteilen, dem jüdischen und palästinensischen, vor, volle Staatsangehörigkeit für alle, die diese möchten, Freizügigkeit und Rückkehrrecht der Palästinenser. Dieser Plan würde heute von keiner der jüdisch-israelischen Parteien gebilligt oder gar unterstützt werden, ob von palästinensischer Seite ist ungewiss. Gewiss ist allerdings, dass eine Fortsetzung der bisherigen israelischen Politik der Sicherheit Israels keinesfalls dient. Und deshalb ist der von Omri Boehm in Erinnerung gebrachte »utopische« Plan einer breiten Debatte würdig.

Omri Boehm: Israel - eine Utopie. A. d. Engl. v. Michael Adrian. Propyläen, 256 S., geb., 20 €.

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