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Mehr Freiheit oder mehr Stress?

100 Tage Homeoffice - eine Bilanz der Risiken und Nebenwirkungen, streng parteiisch aus Beschäftigtensicht.

Vorrede

Reichlich 100 Tage lief der Stresstest Homeoffice, nun gehen viele Einrichtungen wieder zu mehr Präsenz im Betrieb über. Doch was haben die Testwochen ergeben? Was soll bleiben im künftigen Betriebsalltag? Darüber laufen derzeit in vielen Betrieben Beratungen und Verhandlungen an. Die möglichen Pluspunkte für die Beschäftigten sind klar: bessere Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Privatleben, weniger Fahrerei, mehr Selbstbestimmung und Zufriedenheit. Die Erfahrungen des Corona-Frühlings haben bisherigen Präsenzfetischisten vor Augen geführt, dass der Betrieb nicht zusammenbricht, wenn nicht alle Angestellten ständig vor Ort sind.

Das hat zwar nicht alle Skeptiker plötzlich bekehrt, aber die Offenheit ist gewachsen. «Durch die Krise ist Homeoffice wesentlich üblicher geworden. Das wird langfristig dazu führen, dass es auch seitens der Arbeitgeber positiver beurteilt wird und häufiger verfügbar ist», sagt Melanie Arntz vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Insbesondere in administrativen Berufen, IT und Naturwissenschaft, selbst im Handel sei mehr Heimarbeit möglich, prognostiziert das ZEW in einer gemeinsamen Studie mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Luft nach oben gibt es auch in klassischen Bürojobs, in denen zusätzlich bis zu 30 Prozent der Beschäftigten im Homeoffice arbeiten könnten.

Nach dem ersten überraschten bis begeisterten «Oho, es funktioniert (ja doch)!» wird es Zeit für einen Blick auf Risiken und Nebenwirkungen. Denn wenn künftig mehr Menschen wenigstens teilweise von zu Hause arbeiten, braucht es genau dafür gute Lösungen. Laut dem Digitalbranchenverband Bitkom wünscht sich beinahe jeder zweite Berufstätige (45 Prozent) einen gesetzlichen Anspruch auf Homeoffice. Aber ob das von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) angekündigte verbriefte Recht im Herbst überhaupt kommt? In der Union sind jedenfalls viele entschieden dagegen - oder zumindest dagegen, es allzu arbeitnehmerfreundlich auszugestalten.

Dafür ist diese Zwischenbilanz genau das: streng parteiisch aus Arbeitnehmersicht.

Daten

Die Hälfte der Beschäftigten, die in privatwirtschaftlichen Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern angestellt sind und beruflich digitale Informations- und Kommunikationstechnologien nutzen, arbeitete im April oder Mai zumindest zeitweise im Homeoffice. Das ergab eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Im vergangenen Jahr, also vor Corona, arbeiteten 35 Prozent zumindest gelegentlich zu Hause. Infolge der Covid-19-Pandemie nutzten rund 20 Prozent derjenigen, die zuvor ausschließlich im Betrieb tätig gewesen waren, zumindest zum Teil auch das Homeoffice. Dabei wechselten Frauen häufiger ins Homeoffice als Männer.

Risiken und Nebenwirkungen

1) Arbeit ohne Ende

Unter Arbeitgebern ging lange Zeit die Angst um, ihre Angestellten würden zu Hause faulenzen statt arbeiten. Dabei liegen die Risiken klar auf Seiten der Beschäftigten, wie eine Vielzahl an Studien belegt. Denn im Homeoffice arbeitet man mehr.

So fallen dort im Durchschnitt 6,4 Überstunden pro Woche an, bei Angestellten ohne Homeoffice lediglich 3,3 Stunden, wie eine Kleine Anfrage der Linkspartei im Jahr 2016 ergab. Zudem können Heimarbeiter ihre Überstunden weniger gut durch Freizeit oder Geld kompensieren als ihre Kollegen im Büro - auch weil die Zeit am heimischen Arbeitstisch bislang weniger gut erfasst wird. Laut dem «DGB-Index Gute Arbeit» von 2014 leisteten 33 Prozent der Heimarbeitenden sehr häufig oder oft unbezahlte Arbeit - bei den Büroarbeitenden sind es nur 13 Prozent. Menschen im Homeoffice fühlen sich auch öfter gehetzt (63 Prozent) als Angestellte, die nicht von zu Hause aus arbeiten (54 Prozent).

Das hat viele Gründe. Wer vom heimischen Schreibtisch aus arbeitet, braucht besonders viel Selbstorganisation und Selbstdisziplin. Zugleich will man die tatsächliche oder vermutete Faulenzer-Unterstellung durch besonderen Einsatz entkräften. Wenn der Computer streikt, ist die IT-Abteilung nicht sofort zur Stelle. Insbesondere in der jetzigen Umstellungsphase kosten technische Probleme Zeit und Nerven und enden in der Regel in Überstunden. Kurz vor dem Schlafengehen «noch mal schnell in die E-Mails gucken» oder wenn die Kinder im Bett sind «noch mal kurz an die Arbeit gesetzt» - knapp 50 Prozent der Befragten gaben in einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung von 2017 an, dass die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmt. Es ist nicht leicht, das Büro zu Hause hinter sich zu schließen. Die Gedanken bleiben auch nach Feierabend oft dort hängen. Die Wahrscheinlichkeit, nicht abschalten zu können, liegt bei Beschäftigten im Homeoffice laut der Böckler-Studie bei 45 Prozent - mehr als doppelt so hoch wie bei den Büroarbeiterinnen.

Homeoffice befördert demnach Selbstausbeutung und Stress. Obwohl die Arbeit zu Hause die Vereinbarkeit erleichtert, arbeiten viele letztlich mehr und verzichten auf die gesetzlich vorgesehene Ruhepause zwischen den Arbeitstagen. Auf Dauer kann dieser Stress krank machen.

2) Aus den Augen, aus dem Sinn

Insbesondere dort, wo Chefs mit Homeoffice fremdeln, erleben Beschäftigte, dass ihre Arbeit zu Hause weniger wahrgenommen wird. «Sie müssen darum kämpfen, als gleichwertige Mitarbeiter anerkannt zu werden», so WSI-Forscherin Yvonne Lott, die seit Jahren die Erfahrungen von Beschäftigten mit ihrer Heimarbeit untersucht. Vorgesetzte beurteilten Beschäftigte im Homeoffice demnach häufig nicht nach ihrer tatsächlich erbrachten Leistung. Wer zu Hause arbeitet, muss negative Bewertungen fürchten - häufig seien davon Frauen betroffen, schreibt Lott in einer in diesem Jahr veröffentlichten Studie, die sich auf Befragungen des IAB stützt. Man ist raus aus den Absprachen mit Kollegen, die mal schnell auf dem Gang getroffen werden, und ist auch bei Weiterbildungen und Beförderungen außen vor.

3) Unfreiwillig im Homeoffice

Auch Unternehmen sind auf den Geschmack gekommen und wittern ein Sparpotenzial durch Homeoffice. Corona habe bewiesen, dass Unternehmen auch aus dem Homeoffice heraus bestens funktionieren können, so Stefan Wolf, Vorstandschef des deutschen Autozulieferers Elring-Klinger AG, in einem Zeitungsinterview. Die Zahl der physischen Arbeitsplätze ließe sich damit auf 70 Prozent reduzieren. Durch ein Rotationsprinzip - ein Teil der Belegschaft schafft daheim, der andere am Firmensitz - könnten Unternehmen teure Mieten einsparen. Heiz-, Strom- und Verwaltungskosten würden ebenfalls sinken.

Darauf fährt besonders Autohersteller Opel ab. Dieser will seine Angestellten höchstens noch bis zu anderthalb Tage im Büro sehen. «Die Arbeit auf Distanz soll die Norm für alle Geschäftsbereiche werden, die nicht direkt mit der Produktion verbunden sind», verkündete kürzlich Personalchef Xavier Chereau per Videobotschaft. In Zukunft soll man nicht mehr begründen müssen, warum man zu Hause arbeiten will, sondern warum man ins Büro muss!

Mit solchen Überlegungen spielen nach Medienberichten auch Banken und Unternehmensberatungen in Frankfurt am Main. Zudem sollten sich alle Eltern wappnen: Wird ein Kind krank und braucht Betreuung zu Hause, könnten sie künftig mit der Erwartung konfrontiert sein, doch nebenbei noch ein bisschen Homeoffice zu machen. Hat doch während Corona schon so gut funktioniert!

4) Ganz allein zu Haus

Klar, zu Hause hat man seine Ruhe. Aber Menschen sind soziale Wesen, und so sehr man zuweilen seine Kollegen verfluchen mag, irgendwann stellen selbst ausgewiesene Freunde der Heimarbeit fest: Tagein, tagaus allein zu Hause macht auch keinen Spaß. Der Schnack mit den Kollegen fehlt, und manchmal haben sie ja auch fachlich einen nützlichen Hinweis. Zudem passiert es leicht, dass man raus ist aus dem betrieblichen Informationsfluss und raus aus allen Kämpfen. Aus Branchen, in denen viele allein unterwegs sind - Sicherheitspersonal, Reinigungskräfte, Solo-Selbstständige - weiß man, wie sehr kollektives Bewusstsein und gewerkschaftliche Organisierung darunter leiden.

5) Traditionelle Arbeitsteilung

Homeoffice stärkt die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben. Aber zugespitzt muss man sagen: für Frauen, die Doppelbelastung zu stemmen. Unter den jetzigen Bedingungen kann Homeoffice die klassische Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen festigen oder gar verstärken, warnt WSI-Wissenschaftlerin Lott. Flexible Arbeitszeitmodelle wirken sich nämlich sehr ungleich aus: So machen Männer dann mehr Überstunden und Frauen nehmen sich mehr Zeit für die Kinder. Dabei kümmern sich Frauen ohnehin schon stärker um Familie und Haushalt als Männer. Im langjährigen Schnitt ist das Verhältnis etwa zwei Drittel zu ein Drittel. Wenn beide Partner im Homeoffice arbeiten, wird die Aufteilung zwischen den Geschlechtern sogar noch ungleicher, zeigt eine Expertise der Forschungsinstitute WSI und DIW für den Gleichstellungsbericht der Bundesregierung.

Dem widerspricht eine neue Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) - zumindest für die Zeit des Corona-Lockdowns: «Auf Basis der Daten lässt sich die These einer Re-Traditionalisierung in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung nicht bestätigen, sagt BiB-Forschungsdirektor Martin Bujard. Im Gegenteil: Der Anteil von Vätern an der Familienarbeit ist auf noch nie da gewesene 41 Prozent gestiegen. Allerdings hätten die Väter in der Ausnahmesituation keine andere Wahl gehabt, auch weil die Mütter häufig »systemrelevanter« beschäftigt waren. »Ich vermute nicht, dass das väterliche Mehrengagement so anhalten wird«, so Bujard im »Spiegel«.

6) Unfallschutz

Wenn man sich in der Firma ein Bein bricht, ist das ein Arbeitsunfall. Im Homeoffice ist die Sache weit weniger einfach. Denn der gesetzliche Unfallschutz gilt zwar, aber nicht pauschal von 8 bis 17 Uhr, so der DGB Rechtsschutz. Deshalb muss geklärt werden: Stolperte man auf dem Weg ins Arbeitszimmer oder auf dem Weg zur Wohnungstür, weil der Paketbote geklingelt hat? Das Bundessozialgericht hat sich in mehreren Entscheidungen mit der Frage befasst, wann ein Unfall im häuslichen Umfeld als Arbeitsunfall anzuerkennen sind. Danach hängt die Antwort nicht so sehr vom eigentlichen Geschehen ab, sondern von der Tätigkeit, die zu diesem Zeitpunkt tatsächlich verrichtet worden ist oder verrichtet werden sollte. Und das muss man nachweisen. Es nur selbst zu behaupten, reicht nicht aus.

7) Die Kosten

Viele, für die in den vergangenen Wochen der heimische Esstisch zum Arbeitsplatz wurde, dürften nach kurzer Zeit ihren ohne Zweifel hässlichen, aber doch sehr bequemen Arbeitsstuhl, ihren gesundheitsschonend eingestellten und gut ausgeleuchteten Arbeitsplatz im Büro zu schätzen gelernt haben. Die gesundheitlichen Kosten der Heimarbeit machen sich schnell bemerkbar. Auch zu Hause ist der Arbeitgeber grundsätzlich für den Gesundheitsschutz zuständig. Nur die Praxis sieht anders aus. Und rechtlich gesehen dürfen Arbeitgeber ja auch nicht verlangen, dass sie in die Wohnung der Angestellten gelassen werden. Darüber dürften die meisten Unternehmen froh sein. Denn dadurch können sie sich um die Kosten für einen ordentlichen Arbeitsplatz drücken.

Die finanziellen Kosten für Strom dürften hingegen überschaubar sein. Das Energieportal Verivox schätzt, dass sie in der Regel bei unter einem Euro pro Arbeitstag liegen. Stärker ins Gewicht fallen die erforderlichen Arbeitsmittel und deren Pflege. Oder das notwendige Büromaterial, wie Druckerpapier und Möbel.

8) Kollateralschäden

Die Debatte um Homeoffice wird den Druck auf das Arbeitszeitgesetz erhöhen. All jene, die das Arbeitszeitgesetz ohnehin seit Jahren aufweichen wollen, werden diesen Diskurs für sich zu nutzen wissen. Der Branchenverband Bitkom schlagzeilte bereits: »Antiquiertes Arbeitsrecht ist Homeoffice-Hürde«. Der Digitalverband wettert im Chor mit vielen weit weniger digitalen Branchenverbänden, etwa der Gastronomie, gegen den angeblich starren Acht-Stunden-Arbeitstag und die unzeitgemäße elfstündige Mindestruhezeit.

Nachwort

Die möglichen Schwierigkeiten der Heimarbeit sind vielleicht ein Grund, warum Ende 2019 in einer Umfrage von Bitkom 62 Prozent der Beschäftigten mit Homeoffice-Erlaubnis lieber im Büro arbeiteten. Das könnte aber auch daran liegen, dass es bislang an kollektiven Regeln für Homeoffice mangelt und die Unternehmenskultur nicht darauf eingestellt war.

Mit klaren Regelungen ließen sich denn auch Risiken und Nebenwirkungen verringern. Dabei ginge es um die Erfassung der Arbeitszeit, das Recht auf Nichterreichbarkeit, Überstunden und Mindestanwesenheitszeiten im Betrieb. Gewerkschaften betonen die Freiwilligkeit von Homeoffice und pochen darauf, dass der Arbeitsplatz im Büro erhalten bleibt. Für zusätzliche Kosten gibt es überdies als Idee eine monatliche Aufwandspauschale. »Betriebsvereinbarungen und ein gesetzliches Recht auf Homeoffice könnten dabei helfen, dass Beschäftigte eine bessere Work-Life-Balance erleben«, ist Arbeitsmarktforscherin Yvonne Lott trotz aller Bedenken überzeugt.

Fußnote

Eltern sollten in den vergangenen Monaten Homeoffice und Kinderbetreuung zugleich bewältigen. Bei der Sammlung der Nachteile taucht dieser Punkt trotzdem nur am Rande auf. Denn Homeoffice und Kinderbetreuung haben miteinander nichts zu tun.

Mitarbeit: Hermannus Pfeiffer

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