Klein geredet und klein gehalten

Die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales bleibt realitätsfern

Circa alle fünf Jahre werden die Regelsätze für Hartz IV neu bemessen. Diese werden in einer Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ermittelt. Die EVS dient als Grundlage für die Berechnung der neuen Sätze ab 2021. In der EVS wurden dafür die Einkünfte der unteren 15 Prozent der Bevölkerung als statistische Grundlage genutzt. Früher wurden zur Bestimmung der Hartz-IV-Sätze die Haushalte mit den unteren 20 Prozent der Einkommen herangezogen. Schon hier zeigt sich, wie die Bedarfe kleingerechnet werden. Noch deutlicher wird dies dadurch, dass in der zugrundegelegten Referenzgruppe Haushalte nicht herausgerechnet wurden, die selber einen, nicht genutzten, Anspruch auf Sozialleistungen haben. Menschen, die unterhalb des Existenzminimums leben, werden also für die Berechnung von Grundsicherungsleistungen genutzt.

Noch absurder ist, dass selbst von den Einkünften der niedrigsten 15 Prozent noch einmal ordentlich Geld abgezogen wurde, um auf die Hartz-IV-Sätze zu kommen. Nach der neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) stehen einer Person von der Referenzgruppe monatlich 602 Euro zur Verfügung, ausschließlich der Wohnkosten. Selbst davon hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aber noch mal mehr als ein Drittel gestrichen. So kommt das Ministerium auf den ab 2021 gültigen Hartz-IV-Regelsatz von 439 Euro für eine alleinlebende Person. Dieser Betrag soll, zusammen mit einer Übernahme für »bedarfsgerechte« Wohnkosten, ein menschenwürdiges Leben sichern.

Besonders viel Geld von den Ausgaben der Referenzgruppe wurde im Bereich der »Freizeit, Unterhaltung und Kultur« gekürzt. Der Regelsatz sieht hier über 43 Euro weniger vor, als der ohnehin geringe Standard der niedrigsten Einkommensgruppe. Für die Posten »Beherbergung und Gaststätten« sowie »Verkehr« werden in den neuen Hartz-IV-Sätzen jeweils über 37 Euro weniger anerkannt. Und das, obwohl das Bundesverfassungsgericht bereits 2010 festgestellt hatte, dass ein Existenzminimum die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am »gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben« umfassen müsse. Doch diese Teilhabe wird offenbar nur berücksichtigt, wenn diese außerhalb der Gemeinschaft stattfindet: Es ist kein Geld vorgesehen für auswärtige Übernachtungen oder für Besuche in Restaurants und Cafés. Begründet wird dies im Gesetzesentwurf damit, dass die auswärtige Verpflegung »nicht zum physischen Existenzminimum zählt«. Ebenfalls unbeachtet bleibt auch Geld für Haustiere, für Geburtstagsgeschenke oder für die längere Fahrt zu einer Familienfeier. Aber auch gesundheitliche Posten wie Brillen bleiben unberücksichtigt. Generell wird eine Vielzahl von Ausgaben als »nichtregelbedarfsrelevant« definiert oder kleingerechnet. Für Hygienebedarfe von Babys und Kleinkindern sind etwa monatlich 7,66 Euro angesetzt, inklusive Windeln. Für ältere Kinder gibt es jährlich grade mal zwölf Euro für Handykosten. Ein weiteres Beispiel für eine realitätsferne Berechnung ist die monatliche Pauschale zur Anschaffung von Elektrogeräten. Für einen Kühlschrank liegt diese bei 1,67 Euro monatlich. Grundlage dafür sind die Ausgaben von nur 42 Haushalten in der Referenzgruppe. Diese kaufen im Durchschnitt für 81,01 Euro einen Kühlschrank. Dafür gibt es jedoch nur ältere Geräte mit hohem Stromverbrauch. Was wiederum dazu führt, dass die im Gesetzesentwurf festgelegten Stromausgaben von rund 35 Euro extrem knapp bemessen sind.

Was die Kalkulation der Regelsätze für Kinder angeht, kam im Februar ein Rechtsgutachten im Auftrag der Arbeitsgruppe der Arbeits- und Sozialministerkonferenz zu dem Ergebnis, die Leistungen seien deutlich zu niedrig bemessen. Vor allem im Bereich sozialer Teilhabe. Das Rechtsgutachten machte deutlich, dass die gültige Ermittlung des Existenzminimums im Rahmen der EVS ungenügend ist. Im Abschlussbericht steht etwa, dass die Ermittlung der Kinderregelbedarfe bei der EVS »auf einer ungesicherten empirischen Grundlage« basiert. Verschiedene Posten seien auf Grund der Angaben von weniger als 25 Haushalten festgesetzt worden. Deshalb gebe es beispielsweise bei der Berechnung der Regelsätze für 14- bis 18-Jährige Standardfehler zwischen 20 und 100 Prozent.

Das gesamte statistische Modell für die Regelsätze erlaubt von Hartz-IV-Betroffenen nicht, individuell wählen zu können, wofür sie Geld ausgegeben. Denn durch das rigorose Streichen von Bedarfen bleibt nichts übrig. Deutlich wird das etwa dadurch, dass in den neuen Regelsätzen Ausgaben für Alkohol und Tabak nicht als relevant anerkannt sind. Die statistischen Bedarfe der Referenzgruppe werden also durch Wertungen aus den Bedarfen herausgerechnet. Genau gegen diese Praxis hat das Bundesverfassungsgericht Ende 2019 in einem Urteil festgestellt: »Dem Grundgesetz ist ein solcher Paternalismus fremd.« Das Grundgesetz fordere stattdessen »Respekt vor der autonomen Selbstbestimmung der Einzelnen«. Trotzdem gibt es laut Entwurf auch ab 2021 keine Veränderungen dieser Praxis: Bedarfe werden weiter willkürlich gestrichen und kleingerechnet.

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