Pathos, Schmerz und Ohnmacht

Die Sehnsucht nach dem Sinn: Wieland Försters Skulpturen im Kunsthaus Dahlem in Berlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Mensch des 20. Jahrhunderts versucht in Wieland Försters Skulpturen mehr zu sein als ein bloß willfähriges Opfer der Geschichte. Aber Widerständigkeit ist ein Sisyphos-Unterfangen; immer wieder rollt der unter Qualen den Berg hinauf beförderte Stein hinunter.

Ebenso beharrlich bringt Förster die Mythen der Geschichte mit den Tragödien der Gegenwart in Kontakt. Manchmal sind das dann heftige Kollisionen, die nur noch Trümmer zu hinterlassen scheinen, manchmal aber auch Symbiosen, aus denen neue ungeahnte Formen erstehen.

Wieland Förster, der im Februar neunzig Jahre alt wurde, schreibt im Katalog zur Ausstellung, die, nachdem sie zuvor in Erfurt in gezeigt wurde, nun im Kunsthaus Berlin Dahlem zu sehen ist: »Wer ohne schöpferischen Kunstsinn ist, wird sich abwenden, denn Betrachtung braucht Zeit zur Entschlüsselung auch für die besten meiner Arbeiten. Die Niken, Daphnen, Martyrien und der Marsyas fordern Mitstreiter, empfindsame Partner.« Nein, dieser Künstler - gleich ob er als Schriftsteller, Zeichner oder Bildhauer nach Gleichnissen der geschichtlichen Existenznot des Einzelnen sucht - macht es seinem Publikum nicht leicht. Seine Werke sind nicht einfach zu konsumieren, sie fordern Teilhabe durch Sehen und Denken.

1930 wird Förster in Dresden geboren. Als Fünfzehnjähriger erlebt er die Bombardierung Dresdens, 1946 wird er - mit sechzehn Jahren - vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet und wegen »Verdachts illegalen Waffenbesitzes« zu zehn Jahren Straflager verurteilt, kommt ins sowjetische Speziallager Nr. 4 nach Bautzen, wo er an Tuberkulose erkrankt, unter deren Folgen er bis heute leidet (ein Lungenflügel musste entfernt werden).

1950 vorzeitig entlassen, arbeitet er als Technischer Zeichner bei den Dresdner Wasserbetrieben und kann 1953 ein Studium an Hochschule für Bildende Künste in Dresden beginnen, das er 1958 abschließt. Ab Mitte der sechziger Jahren avanciert Förster zum wohl ausdrucksstärksten DDR-Bildhauer der jüngeren Generation.

Das Kunsthaus in Dahlem hat eine Geschichte, die die Verhängniszusammenhänge des 20. Jahrhunderts kenntlich macht - und in diese stellt sich Wieland Förster mit seinen Arbeiten immer wieder sehr bewusst. Denn die große Ausstellungshalle war einmal das Atelier von Arno Breker, eine sehr zwielichtige Gestalt der Kunstgeschichte. In den 20er Jahren lebte Breker als Avantgardekünstler in Paris - und ließ sich dann von der NS-Propaganda als Schöpfer von Herrenmenschen-Skulpturen einkaufen. Bernhard Heiliger war Anfang der vierziger Jahre Schüler bei Breker und bat diesen um Hilfe, als er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Breker half tatsächlich und Heiliger konnte im Dahlemer Atelier bleiben, bis er in der Endphase des Krieges dann doch noch eingezogen wurde - und sofort desertierte. 1946 bekam Heiliger einen Lehrauftrag an der Hochschule für Angewandte Kunst in Berlin Weißensee - geriet jedoch wegen seiner formalen Kunstauffassung immer stärker unter Druck der sowjetischen Kunstdoktrin und wechselte nach Westberlin, wo er an das Dahlemer Atelier zurückkehrte.

Dort besuchte ihn Wieland Förster 1954 das erste Mal (und später immer wieder) - und war fasziniert von der archetypischen Wucht der reduktionistischen Arbeiten Heiligers. Nun, zu seiner Werk-Lebensschau, hat Förster prägende Arbeiten Bernhard Heiligers, der 1995 starb, ausgesucht. Sie werden im Nebenraum gezeigt. Ein intensiver Spannungsbogen zwischen beiden Bildhauern stellt sich so her - ein keineswegs widerspruchsfreies Gespräch zweier Künstler in ihren Werken, die beide den Mythos auf moderne Weise auszudrücken versuchten. Allein dieses Nebeneinander von einem der wichtigsten bundesdeutschen Künstler der frühen Nachkriegszeit und einem der wichtigsten DDR-Künstler ab Mitte der sechziger Jahre in Augenschein zu nehmen, lohnt sich. Was verbindet sie, trennt sie? Um das herauszufinden, sollte man diese Ausstellung sehen.

Dem Schriftsteller Franz Fühmann begegnete Förster anfänglich mit Misstrauen, denn bis Ende der fünfziger Jahre war dieser hauptamtlicher Funktionär im Parteivorstand der Blockpartei NDPD. Doch dann begann ein intensiver Austausch zwischen ihnen, den man nachlesen kann in den kürzlich erschienenen Briefen (»Nun lesen Sie man schön!«, Briefwechsel 1968 - 1984, Hinstorff Verlag). Fühmann erfasst sofort Försters herausragende Bedeutung, denn er schöpft bewusst aus einer Wunde heraus, die ihm die NS-Herrenmenschen-Ideologie schlug, samt den persönlich erlittenen Folgen nach 1945. Und da hat er in Fühmann ein Gegenüber, das einen ähnlichen Wandlungsprozess durchlaufen hat - von der Doktrin hin zu Dichtung. Fühmann über Förster: »Seine Vitalität bewahrt ihn davor, Formales zum Selbstzweck zu erheben, es ist immer Ausgangsposition für Geistiges.«

In der Mitte des vormaligen Breker-Heiliger-Ateliers steht nun als geistiges Zentrum Försters Monumentalplastik »Großer trauernder Mann«, eine muskulöse Figur gleichsam in Embryonalhaltung. Da ist Pathos auf das, was daran echt ist, zurückgeworfen: übermächtiger Schmerz, pure Ohnmacht. Ein fundamentaler Gegenentwurf - nicht nur in der Kunst, auch in Sicht auf den Menschen - zu Brekers an diesem Ort entstandenen Heroen. Auch so kann man den Geist eines Ortes konterkarieren - auf spannungsvoll diskursive, nicht bilderstürmerische Weise.

Rechts davon »Marsyas - Jahrhundertbilanz« von 1999, links »Das Opfer« von 1994. Das ist auch auf aktuelle Weise programmatisch für Förster. Über Marsyas hatte Fühmann eine verstörende Erzählung geschrieben - dies hier ist gleichsam ihr visuelles Pendant. Ein Gleichnis auf den Künstler vor der Macht samt ihrer grausamen List. Der Wettstreit von Marsyas mit Apollon endet damit, dass sich Apollon zum Sieger erklärt und Marsyas auf grausame Weise tötet - ihn häutet, verstümmelt, in Fetzen schneiden lässt und diese Fetzen in alle Winde verstreut.

Aber mit diesem vollständigen Sieg hat sich Apollon auch selbst eine vollständige Niederlage bereitet, denn Marsyas’ Partikel sind nun überall, der schöpferische Funke ist nicht mehr aus der Welt zu bringen. Förster formt aus dem Klumpen Fleisch eine schlanken Stele, ein Stück über sich hinaus wirkender Materie.

Die dritte Figur in dieser zentralen Achse der Werkschau ist »Das Opfer«: ein Torso, ein aufgeschlitzter Corpus, der nach hinten gesunkene Kopf mit den blicklosen Augen gen Himmel gerichtet, von wo keine Hilfe zu erwarten ist. Wir sehen hier überall Körper im Raum, oft nur noch sinnbildliche Rudimente, von denen jedoch eine starke Energie ausgeht: die Sehnsucht nach einem Sinn der Geschichte, der nicht einfach verloren ging, sondern der verfälscht und ideologisch missbraucht wurde.

Wie stark Förster aus der Dichtung schöpft, zeigen auch seine hellsichtigen Porträtbüsten von Künstlern, darunter Heinrich Mann, Peter Huchel, Thomas Mann, Jean Genet und Erich Arendt - die beiden letzteren sind in Dahlem leider nicht vertreten. Auch die legendäre Porträtplastik Franz Fühmanns von 1969 ist hier nicht zu sehen. Noch vor Fühmanns Hungerkur entstanden, zeigt sie den Kopf des Autors als vom eigenen wuchernden Fleisch bedroht. Askese tut not! Fühmann, tief erschreckt von diesem Porträt, sah darin nicht bloß den Spiegel seiner Fress- und Alkoholsucht zu dieser Zeit, sondern, weitaus schlimmer: die Kontur auch der eigenen Gedanken drohte ihm verloren zu gehen.

Förster arbeitete sich an diesem »massigem Funktionärskopf« ab und Fühmann notierte über die Sitzungen bei ihm: »Es bedurfte Sammlung, um standzuhalten, gar zu bestehen. Man wurde gewogen. Dann traten Züge von ernster Güte hervor, doch die Forderung wurde nicht gemildert.« - Diese Bronze blieb Fühmann eine Mahnung: So aussehen, gar so sein, wollte er fortan nie mehr!

»Wieland Förster - Skulpturen aus 50 Jahren. Zum 90. Geburtstag des Bildhauers«, bis 18. Oktober, Kunsthaus Dahlem, Käuzchensteig 8, Berlin

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