Werbung

Feiertag der Verunsicherung

In Italien sind die Corona-Infektionen vor dem »Ferragosto« weiter rückläufig, doch die Wirtschaft leidet schwer

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 4 Min.

Bereits seit über 2000 Jahren ist »Ferragosto«, der 15. August, der hier wohl beliebteste Feiertag - erst im alten Rom und dann in Italien. Das Wort bedeutet so viel wie »Die Ruhe des Augustus«; das Fest wurde tatsächlich im Jahre 18 vor der Geburt Christi von Kaiser Augustus ins Leben gerufen. Später wurde es dann von der katholischen Kirche abgegriffen. Heutzutage gedenkt man an diesem Tag der Himmelfahrt Marias.

Für die meisten Italiener aber ist es schlichtweg der Mittelpunkt des Sommers. Um Ferragosto herum organisiert man seine Ferien, die Städte sind dann fast menschenleer, während sich die Leute an Stränden, auf Bergwiesen oder an Seeufern drängeln. Dort wird ausgiebig gepicknickt, mit Pasta, Braten und Wassermelone. So läuft das seit Jahrhunderten. Ist 2020, im Corona-Jahr, alles anders?

Jein. Die Italiener lassen sich ihren Lieblingsfeiertag nicht nehmen, auch nicht von Covid-19. Die Städte wirken wie ausgestorben - sogar mehr als in den Jahren davor, da 2020 auch die mutigen Touristen fehlen, die in der brüllenden Hitze Sehenswürdigkeiten bewundern. Die Italiener machen Ferien - egal ob nur für das Wochenende, eine oder gar zwei Wochen. Aber der Urlaub ist dieses Jahr häufig kürzer als sonst. Über 30 Prozent der Menschen können sich wirklich nicht mehr als einen Ausflug leisten.

An den Stränden bietet sich allerdings das gewohnte Bild - trotz der wenigen Kontrollen sitzt man eng zusammen, oft auch ohne Schutzmaske. Wenn man genau hinsieht, bemerkt man allerdings, dass sich vor allem die Jüngeren nicht »regelkonform« verhalten. Es ist nicht so, dass sie die Existenz des Virus verneinen, wie das oft in Deutschland der Fall ist. In Italien haben sie nach über zwei Monaten des strengen Lockdowns einfach die unbändige Lust, endlich wieder zu leben.

Italien ist derzeit eines der europäischen Länder mit den geringsten Neuinfektionen. Meist sind es »Importe«, sei es von heimkehrenden Urlaubern, von Feldarbeitern aus Bulgarien oder Rumänien oder anderen Migranten. Diese Fälle werden schnell isoliert; die Krankenhäuser und Intensivstationen sind praktisch leer, und die neuen Covid-Todesfälle zählt man an den Fingern einer Hand. Aber in den Köpfen der Italiener schwirren unauslöschlich die Bilder und Zahlen der vergangenen Monate herum: die überfüllten Krankenhäuser, die vielen, vielen Toten, das unendliche Leid. Das und die verordnete Isolation über Monate hinweg haben die Italiener schwer schockiert. Psychologen und Psychotherapeuten haben alle Hände voll zu tun. Auch Kinder haben Schlafstörungen, sind plötzlich aggressiv oder zeigen andere Auffälligkeiten.

Am deutlichsten spürbar ist jedoch die allgemeine Verunsicherung. Die Fragen, die sich die Menschen derzeit stellen, sind für die meisten dieselben: Wie wird es wirtschaftlich weitergehen? Kommt ein neuer Lockdown? Werde ich meine Arbeit verlieren? Können die Kinder wieder in Schulen, Kindergärten und Krippen? Wie kann ich die ältere Generation schützen? Wirkliche Antworten gibt es kaum. Die Wissenschaft und die Politik tun sich schwer, klare Ansagen oder Prognosen zu geben. Da heißt es auf der einen Seite, dass das Virus viel von seiner Gefährlichkeit eingebüßt habe, und auf der anderen, dass alle Corona-Verordnungen auch weiterhin streng befolgt werden müssen, weil sonst die nächste Katastrophe drohte. Die Regierung sagt, dass die Schulen im September den Regelbetrieb wieder aufnehmen werden, aber gibt auch zu, dass dafür noch viele Klassenräume und Lehrer fehlen.

Man soll wieder konsumieren, wird gesagt, um die Wirtschaft anzukurbeln. Aber viele Geschäftsinhaber haben erklärt, dass sie im Herbst wahrscheinlich nicht mehr öffnen werden, da sie keine Rücklagen mehr haben. Selbst in Bezug auf den öffentlichen Verkehr gibt es viele Widersprüche: In Schnellzügen wird streng auf den vorgeschriebenen Abstand geachtet, doch Regionalzüge, S-Bahnen und Autobusse sind oft überfüllt. Dass in dieser Situation bei den Menschen in Italien die Verunsicherung überwiegt, ist deshalb mehr als verständlich. Auch am beliebtesten Feiertag des Sommers.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal