»Die konsequentesten Demokraten«

Was ist Faschismus? Wie war das mit der »Dimitroff-Formel«? Vor 85 Jahren tagte in Moskau der VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale

  • Phillip Becher
  • Lesedauer: 7 Min.

In den Sommertagen des Jahres 1935 trafen sich in Moskau 513 Vertreter*innen von insgesamt 65 kommunistischen Parteien zum siebten und letzten Weltkongress der 1919 im Zuge der revolutionären Nachkriegskrise gegründeten Kommunistischen Internationale. Die Delegierten dieser »Weltpartei« reflektierten die dramatische Situation einer umkämpften Welt: In Deutschland waren die Nazis an der Macht, deren aggressiver werdende Außenpolitik möglicherweise noch durch ein europäisches System kollektiver Sicherheit hätte gestoppt werden können. Stattdessen aber suchten die Westmächte einen möglichen Vorstoß der Berliner Machthaber gen Osten zu lenken. Bei der blutigen Niederschlagung des asturischen Bergarbeiterstreiks im Herbst 1934 übte sich General Franco in einer Art Generalprobe für den zwei Jahre später durch seinen Putsch gegen die Spanische Republik entfachten Bürgerkrieg. Es waren also, gelinde gesagt, keine günstigen Zeiten für die demokratischen Kräfte in Europa.

Aber es gab auch Lichtblicke, die ebenso in die Beratungen einflossen: Im Februar 1934 hatten spontane gemeinsame Abwehrkämpfe von Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen in Paris einem faschistischen Umsturzversuch eine Niederlage bereitet. Die sodann enger werdende Einheit der Arbeiterklasse wirkte anziehend auf die schwankenden Mittelschichten, die ansonsten das für die damalige Zeit typische Mobilisierungsreservoir der äußersten Reaktion hätten bilden können, und rettete damit in Frankreich die Republik. Dies bot Anlass zur Hoffnung und mahnte zum Umdenken und zur Abkehr von bisherigen, sektiererischen Positionen.

An der Spitze der kommunistischen Weltbewegung stand 1935 Josef Stalin. Die von ihm und seiner Führungsgruppe angestoßenen Säuberungswellen und Schauprozesse in der zweiten Hälfte der 30er Jahre standen der Sowjetunion zwar noch bevor. Die Folgen der Politik des selbst ernannten Nachfolgers Lenins hatten sich jedoch - neben vielen anderen Feldern - bereits in den strategischen Orientierungen der kommunistischen Parteien des Westens auf negative Weise niedergeschlagen: So hatte unter anderem die berüchtigte Sozialfaschismus-These eine effektive antifaschistische Einheit in vielen Ländern behindert. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang allerdings, dass umgekehrt der ebenfalls wirkmächtige und verhängnisvolle Antikommunismus der sozialdemokratischen Führer keines Stalin als Vorwand bedurft hatte.

Doch der VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale gehört nicht zum Erbe Stalins. Der Kongress verarbeitete und bot wiederum Impulse, die weit über den Horizont des sowjetischen Staats- und Parteichefs hinausgingen.

Zwei zentrale Figuren des Kongresses und seiner Vorbereitung waren der Bulgare Georgi Dimitroff und der Italiener Palmiro Togliatti. Ersterem fiel die Aufgabe des Hauptreferenten im Rahmen des Kongresses zu. Die am häufigsten zitierte und kontrovers rezipierte Sentenz des Konferenzprotokolls sind die folgenden Worte Dimitroffs: »Der Faschismus an der Macht, Genossen, ist, wie ihn das XIII. Plenum [des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale] richtig charakterisiert hat, die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.« Hieraus ergaben sich die Eckpfeiler für ein breites, gegen den Faschismus und seine gesellschaftliche Wurzel gerichtetes Bündnis aller, die kein objektives Interesse an der Errichtung einer derartigen Diktatur hegen konnten. So bekannte Dimitroff, dass die Kommunisten Anhänger der Rätedemokratie, »der Demokratie der Werktätigen, der konsequentesten Demokratie der Welt [seien]. Aber wir verteidigen in den kapitalistischen Ländern jeden Fußbreit der vom Faschismus und von der bürgerlichen Reaktion gefährdeten bürgerlich-demokratischen Freiheiten und werden es auch in Zukunft tun, weil die Interessen des Klassenkampfes des Proletariats es verlangen.« Damit war der Weg zu einer (Wieder-)Erkämpfung der Demokratie geebnet, zugleich aber auch die Möglichkeit ihrer konsequenten Vertiefung anvisiert.

Laut Ernst Fischer gab Palmiro Togliatti, der seit der Verhaftung seines Freundes Antonio Gramsci 1926 an der Spitze der italienischen KP stand, 1937 in Moskau seinem österreichischen Genossen, der wenige Jahre zuvor dem Terror des Austrofaschismus entkommen war, folgende Worte mit auf den Weg: »Wenn wir jemals wieder in unsere Länder zurückkehren, muss uns von Anfang bewusst sein: Kampf um Sozialismus heißt Kampf um mehr Demokratie. Wenn wir Kommunisten nicht die konsequentesten Demokraten sein werden, wird die Geschichte über uns hinweggehen.«

Hartnäckig hält sich allerdings auch in linken Kreisen das Gerücht, die auf dem VII. Weltkongress ausgegebene Orientierung sei Konsequenz einer »von Stalin befohlenen Dogmatisierung« innerhalb der Faschismus-Diskussion gewesen, wie sich beispielsweise der Historiker Mathias Wörsching ausdrückte. Spätestens nach einem Blick in die 2000 erstmals in deutscher Sprache publizierten Dimitroff-Tagebücher der Jahre 1934 bis 1943 wird allerdings klar, dass Stalin selbst einer Faschismus-Deutung anhing, die näher an der Leo Trotzkis als an der von Dimitroff, Togliatti und anderen lag - was Stalins irrige Auffassungen nicht richtiger macht: Er charakterisierte die damalige deutsche Nazi-Führung als »kleinbürgerliche […] Nationalisten«, die »nicht mit den kapitalistischen Traditionen verbunden« seien.

Ebenso hartnäckig hält sich das Gerücht, dass es Georgi Dimitroff persönlich gewesen sei, der die auf dem VII. Weltkongress zitierte Definition des Faschismus geprägt habe, doch als das Exekutivkomitee der Komintern diese Begriffsbestimmung im Dezember 1933 erstmals formulierte, saß Dimitroff im deutschen Gefängnis.

Als »de[n] wichtigste[n] Propagandist[en] der Dimitroff-Formel« bezeichnete der 2019 verstorbene Hamburger Historiker Axel Schildt den marxistischen Sozialwissenschaftler Reinhard Opitz (1934-1986). Das war nicht als Kompliment gemeint. In der Tat war die Bestimmung des Faschismus-Begriffs durch die Kommunistische Internationale Dreh- und Angelpunkt im Opitz’schen Denken. Aber Opitz plapperte nicht einfach nur den Protokollen und Tagungsbänden entnommene Stehsätze nach, sondern bemühte sich vielmehr um eine sozialwissenschaftliche Weiterentwicklung. So sprach er im Jahr 1970 in kritischer Weise davon, dass die Komintern-Definition auf die »Feststellung der objektiven sozialen Funktion des Faschismus beschränkt« geblieben war.

In späteren Jahren sah Opitz sich allerdings veranlasst, die Vorzüge der oft geschmähten vermeintlichen »Dimitroff-Formel« hervorzuheben, als gegen die AnhängerInnen der marxistischen Deutung des Faschismus der Vorwurf erhoben wurde, sich eines klassenreduktionistischen Ökonomismus schuldig zu machen und ideologische Phänomene aus der Betrachtung auszuklammern. Angesichts der Tatsache, dass Dimitroff 1935 dafür gesorgt hatte, dass alle Delegierten des VII. Weltkongresses in ihren Unterlagen das Buch »Der Herren eigner Geist« fanden, in dem der kommunistische Schriftsteller Hans Günther die von den Nazis zur Anwendung gebrachten Ideologieelemente kritisch sezierte, geht der Vorwurf zumindest in Richtung der historischen Akteure fehl.

Heute sieht es in dieser Hinsicht noch ärger aus, und präzise Bestimmungen des Faschismus werden auch unter Linken zur Seltenheit. So lud im vergangenen Jahr die Rosa-Luxemburg-Stiftung den Oxforder Zeithistoriker Roger Griffin ein, um von ihm Hilfestellungen bei der Bestimmung des Charakters der historischen und gegenwärtigen äußersten Rechten zu erhalten. Auf der Website der RLS liest man nun folgende Worte Griffins: »Der Faschismus ist eine radikale Lösung für Leute, die nicht wissen, wer sie sind, wo sie sind und wo sie hingehören.« Und weiter heißt es: »Der effektive Weg, mit den Rechten umzugehen, besteht darin, nicht auf ihre Sprache des Hasses und der Verteufelung einzugehen, sondern zu versuchen, methodisches Einfühlungsvermögen zu nutzen, um zu verstehen, mit welchen Rechten man es zu tun hat, und dann eine Mischung aus Wissen und Aktivismus anzuwenden, um auf die jeweilige rechte Strömung adäquat zu reagieren.«

Ob sich mit einem derartigen Instrumentarium beispielsweise die aktuellen Faschisierungstendenzen auf dem nordamerikanischen Kontinent bestimmen lassen, ist fraglich. Seit Jahren malt die äußerste Rechte in den Vereinigten Staaten das Zerrbild einer zum Bürgerkrieg hetzenden Linken, gegen die man alle nötigen Macht-, und das heißt ganz klar: Gewaltmittel des Staates, aufbringen muss.

Nun ist aus Rhetorik materielle Gewalt geworden und obwohl nicht die Rede davon sein kann, dass in den USA der Faschismus an der Macht wäre, erinnerten die Ende Juli zur Repression von Protesten entsendeten Bundespolizeitruppen auch bürgerliche Journalist*innen an die aus dem letzten Jahrhundert bekannten faschistischen Schlägertrupps. Zugleich irritiert der stete Rekurs der als Gewährsleute unter anderem von Fraktionen der Erdöl- und der Waffenindustrie zu betrachtenden US-amerikanischen Rechten auf freiheitlich konnotierte Werte und die Verfassung sowie die medial befeuerte Lancierung des Faschismus-Vorwurfs an die Linke selbst. Wer im Griffin’schen Sinne hier lediglich »einfühlsam« zuhört, wird nicht weit kommen.

Phillip Becher ist Sozialwissenschaftler und arbeitet an der Universität Siegen. Im Frühjahr erschien seine Studie »Faschismusforschung von rechts« im Kölner Papyrossa-Verlag.

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