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Die Suche nach sportlichen Idolen

Wie sich vier Athleten aus Südsudan monatelang in Japan auf Olympia vorbereiten

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 6 Min.

Es ist tadelloses Japanisch in gewählter Höflichkeitsform, mit dem sich Joseph Akoon vorstellt. »Ich bin Hürdenläufer und komme aus Südsudan«, sagt der 18-jährige kurz vor seiner Trainingseinheit. Etwas stockend zwar, aber mit guter Betonung. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich bitte Sie, mir wohl gesonnen zu sein.« Kenntnisse des Japanischen sind eines der Dinge, die er hier in den vergangenen neun Monaten gelernt hat. Seine Tage beginnen nicht etwa mit Sport, sondern abwechselnd mit Sprachunterricht und einem Computerkurs. Erst dann, nach dem Mittagessen, geht es auf die Tartanbahn.

Es ist ein Alltag, den er sich so nicht gewünscht hat. Eigentlich sollte Joseph Akoon gar nicht mehr hier sein. Wäre das Jahr 2020 nach Plan verlaufen, wäre der junge Leichtathlet schon seit Mitte August wieder zurück in der Heimat. Bei den Olympischen Spielen in Tokio wäre er zum ersten Mal über 400 Meter Hürden gestartet. Im Anschluss daran wäre er wohl, körperlich erschöpft, in seine kleine Heimatstadt Akon gereist, um sich von seinen Eltern und seinen drei Brüdern pflegen und feiern zu lassen.

Südsudan, der jüngste Staat der Erde, wäre nach Rio 2016 erst zum zweiten Mal bei Olympischen Spielen vertreten gewesen. Bekanntlich kam es anders. Als Ende März beschlossen wurde, die Spiele in den Sommer 2021 zu verschieben, war für Joseph Akoon nicht nur das monatelange, zielgerichtete Training plötzlich verpufft. Für ihn, drei weitere Athleten und einen Trainer aus Südsudan, veränderte sich das ganze Leben. Sie sind in Japan gestrandet. Das bedeutet für Akoon zunächst das Gleiche wie für seine 19-jährige Teamkollegin Lucia Moris, die über 100 und 200 Meter starten wollte, und 1500-Meterläufer Abraham Guem sowie den paralympischen Sprinter Michael Machiek. »Ich kann meine Eltern und meine Geschwister nicht sehen. Sie fehlen mir jeden Tag.« Dem gerade volljährigen Akoon fällt dieser Gedanke auch deshalb als Erstes ein, weil er weiß, dass er so schnell nicht nach Hause zurückkehren kann. Bis zum Start von »Tokyo 2020«, seit der Verschiebung auf den 23. Juli 2021 terminiert, sollen die vier Athleten in Japan bleiben. Alles andere wäre zu teuer und sportlich unsinnig, erzählt Tong Chor Malek, Präsident von Südsudans Nationalem Olympischen Komitee, über das Telefon von Juba aus, der Hauptstadt des Landes.

Der Sportfunktionär war es auch, der die Athleten im November 2019 in das Trainingslager nach Japan geschickt hatte - nach Maebashi im Zentrum des Landes. »Ich telefoniere ungefähr einmal die Woche mit ihnen. Sie haben dort Trainingsbedingungen, die wir ihnen hier nicht bieten können. Sie vermissen natürlich ihre Familien. Aber so ist das eben. Sie sind Athleten. Und vertreten unser Land.« Malek will, dass sie nächstes Jahr als Helden zurückkehren. Der Südsudan sucht nach sportlichen Idolen, die der Jugend als Inspiration dienen. Erst seit 2011, nach langem Konflikt, spaltete sich das Land vom Sudan ab und erlangte formal seine Unabhängigkeit. Bald darauf brach ein neuer Bürgerkrieg aus, der die wichtige Erdölproduktion hemmte. Rund ein Drittel der 13 Millionen Einwohner musste mit Nahrungsmittelhilfen unterstützt werden. Südsudan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt.

»Für uns ist es ehrlich gesagt auch gut, dass Olympia verschoben wurde. Im März hatte sich noch keiner unserer Athleten qualifiziert. Und wir stecken momentan auch mitten im Verfahren, um vom Internationalen Paralympischen Komitee anerkannt zu werden«, berichtet Tong Chor Malek. Durch die Verschiebung könnte man dies noch rechtzeitig schaffen, um auch bei den Paralympischen Spielen starten zu dürfen. »Aus meiner Perspektive ist das gerade eine sehr günstige Situation.« Günstig auch deshalb, weil die kleine südsudanesische Delegation nichts bezahlen muss. Im Rahmen der »Host Town Initiative«, mit der japanische Städte ausländische Athleten für Trainingslager aufnehmen, sind die Südsudanesen in Maebashi untergekommen. Angesichts der Coronapandemie wurde die Einladung um ein Jahr verlängert.

Diese Großzügigkeit sei auch Eigennutz, gesteht Kenichi Uchida. »Wir sehen Olympia als Chance, um unsere Stadt mit der Welt zu verbinden. Wir organisieren für die Athleten ein Bildungsprogramm. Aber wir wollen auch unsere Einwohner mit ihnen in Kontakt bringen.« Uchida ist Angestellter im Rathaus von Maebashi und Betreuer der fünfköpfigen Delegation aus Südsudan. »Sie besuchen Schulen und Kindergärten und wir machen Sportveranstaltungen mit ihnen. Viele Kinder staunen, sie haben noch nie so große Menschen gesehen. Wir Japaner sind ja eher klein.« Dabei gibt Uchida zu, dass er sich anfangs Sorgen um mögliche Reibungen gemacht hat. Der Alltag in Japan, wo nur wenige Ausländer leben, ist nicht nur von Benimmregeln und Höflichkeitsformeln geprägt, er ist auch kaum für Flexibilität bekannt. So dürfen etwa Telefoninterviews mit den Athleten nur um 10.30 Uhr japanischer Zeit stattfinden.

»Wir haben den ganzen Tag zu tun«, bestätigt Joseph Akoon. »Wir machen hier alles sehr regelmäßig und mit klarer Struktur. Alles beginnt auf die Minute pünktlich. Das ist zu Hause etwas anders, wir sind mehr Lockerheit gewohnt.« Das wiederum gefällt Akoons Trainer Joseph Omirok, der gemeinsam mit seinen Sportlern in Japan festsitzt. Mit dem Essen habe Omirok, der bei den Sommerspielen 1988 in Seoul über 5000 Meter für den Sudan gelaufen war, zwar Schwierigkeiten. Er verstehe nicht, warum man einen Fisch in seine Einzelteile zerlegt, um Sushi zu machen, wenn man doch den ganzen Fisch kochen könne. Aber auf dem Sportplatz verstehen sich Omirok und der pensionierte Sportlehrer der Stadt Maebashi, mit dem er das Training gemeinsam organisiert, gut. »Die Methoden kennenzulernen, ist sehr nützlich. Zuhause haben wir gar keine Tartanbahn und auch keine Stoppuhren. Hier gibt es ganz andere Möglichkeiten, die Trainingsfortschritte zu beobachten.« Und die seien beachtlich.

Allerdings muss auch noch einiges getan werden. Um die Normzeit für Olympia zu schaffen, muss sich etwa Joseph Akoon über 400 Meter Hürden noch um vier Sekunden verbessern. Das wäre ein großer Sprung. Aber ihn beeindruckt das nicht. »Zuhause haben wir nicht mal Hürden für das Training. Dafür musste ich bis ins Trainingslager nach Uganda reisen. Hier habe ich meine Technik schon deutlich verfeinert. Und wenn ich schon gelernt habe, auf Japanisch zu lesen, dann kann ich auch noch ein bisschen schneller laufen.«

Den Rückhalt ihrer Gastgeber haben Akoon und seine Kollegen dabei sicher. »Die Südsudanesen passen überraschend gut zu uns Japanern«, sagt Uchida. »Sie sind alle sehr ruhig und bescheiden und arbeiten hart.« Seine Abteilung im Rathaus hat schon mal T-Shirts drucken lassen. Auf ihnen steht in bunten Farben auf englischer Sprache: »Maebashi feuert die Athleten von Südsudan an.«

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