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Agitatorischer Überschwang

«Linker Antisemitismus» als Topos und Wirklichkeit. Von Jens Renner

  • Jens Renner
  • Lesedauer: 4 Min.

Moralisierung und instrumentelle Politisierung« prägten die aktuelle deutsche Antisemitismusdebatte, schrieb Gerhard Hanloser jüngst in dieser Zeitung. Als Beleg nannte er unter anderem die Affäre um den postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe, den der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, öffentlich zum Antisemiten erklärte. Nun hat auch Berlin einen Antisemitismusbeauftragten: den Politologen Samuel Salzborn. Der habe sich, zusammen mit seinem Kollegen Sebastian Voigt, vor allem als »Ankläger eines vorgeblichen Antisemitismus in der Linkspartei« profiliert, kritisiert Hanloser. Wegen Salzborns »beständig nach links gerichteten Blicks« sei seine Ernennung »verheerend«.

Starke Worte - aber von einem ausgewiesenen Kenner der Materie. Hanloser verfolgt die bundesdeutschen inner- und antilinken Antisemitismusdebatten schon lange. Im nun von ihm herausgegebene Band »Linker Antisemitismus?« liefert er in drei eigenen sowie sechs weiteren Texten wichtiges Material nicht nur für die laufende Debatte.

Von Proudhon bis 68

Dass es Antisemitismus in der Linken gibt, steht nicht in Frage. Hanlosers »kontextualisierende Bestandsaufnahme« beginnt im 19. Jahrhundert mit dem französischen Anarchisten und »veritablen Antisemiten« Joseph Proudhon sowie dem auch von Karl Marx reproduzierten »antijüdischen Schacher-Stereotyp«. Auch den stalinistischen Antisemitismus und den gescheiterten Querfrontversuch der KPD anno 1923 erwähnt er. Damals glaubte die Parteichefin Ruth Fischer, in der Hetze gegen »Judenkapitalisten« antikapitalistische Ansätze zu erkennen.

Beim Blick auf die DDR ist der Befund weniger eindeutig. Hanloser trägt einiges zusammen, das deren heute in manchen Kreisen verbreiteten Pauschalverurteilung als antisemitisch und geschichtsvergessen widerspricht. Auch relativiert er das westdeutsche Selbstlob für vermeintlich vorbildliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechensgeschichte: Tatsächlich blieb diese für die staatstragenden Kräfte über Jahrzehnte ein Tabu. Auch dagegen und gegen die personellen und politischen Kontinuitäten zum Nationalsozialismus richtete sich zunächst die Revolte von 1968. Deren Fokus wandte sich dann aber von der grauenvollen Vergangenheit ab und der strahlenden Zukunft zu. »Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen«, soll Rudi Dutschke gesagt haben.

Mit der Revolte verbunden war auch eine inflationäre Verwendung des Faschismusbegriffs, waren oft grobschlächtige Analysen globaler Widersprüche, war im Nahostkonflikt ein rüder Antizionismus. Hanloser sieht hier vor allem »agitatorischen Überschwang« am Werk. Antisemitismus sei erst dann gegeben, »wenn eine klare Schuldabwehrstrategie (…) erkennbar ist, die Israelis als ›neue Nazis‹ konstruiert werden, um die deutsche Schuld zu schmälern«. Heute aber lebe »die öffentliche Anklage des ›linken Antisemitismus‹ (…) von der Andeutung, Behauptung und dem Raunen«, schreibt Hanloser und zitiert Micha Brumlik: Mit dem »Hammer des israelbezogenen Antisemitismus« sei man »auf der Ebene von Gerüchten, und wozu Gerüchte führen können, das haben wir in den 50er Jahren in den USA erlebt, das nennt man heute McCarthyismus«. Wohnt jener agitatorische Überschwang nunmehr auf der anderen Seite?

Definitionen als Kampfbegriffe

In seinem zweiten Beitrag, einem »kursorischen Blick auf kursierende Begriffsdefinitionen«, demontiert Hanloser das Konstrukt des »strukturellen Antisemitismus« und die mehr oder weniger offiziellen Antisemitismusdefinitionen des European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) und der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Letztere sieht er, wie der von ihm zitierte Peter Ullrich, als ein »zu Willkür geradezu einladendes Instrument«. Wie die antilinken Kampagnen wirken, zeigt er am Beispiel der Linkspartei. Deren Anpassungskurs gipfelte in Gregor Gysis Bekenntnis zur Solidarität mit Israel als Teil deutscher »Staatsräson«, womit er eine Formulierung Angela Merkels übernahm. »Staatsräson«, schreibt Hanloser, sei aber »ein autoritärer Ordnungsruf und kann mit einem linken Selbstverständnis (…) nicht identisch sein.«

In den weiteren Beiträgen werden Einzelaspekte vertieft: Die Neue Linke (Karin Wetterau), der bewaffnete Kampf (Gerhard Hanloser), Rainer Werner Fassbinders Theaterstück »Die Stadt, der Müll und der Tod« (Peter Menne), antiisraelische Parolen in der Hamburger Hafenstraße (Markus Mohr), Moishe Postones »marxisierende Konstruktionen« (Karl Reitter), der »selbsthassende Jude« (Moshe Zuckermann) und »Antisemitismus als Beute der Intellektuellen« (Ilse Bindseil). Alle Beiträge lassen sich mit Gewinn lesen. Besonders ergiebig für die laufende Debatte sind aber Gerhard Hanlosers eigene Texte.

Linker Antisemitismus? Herausgegeben von Gerhard Hanloser. Kritik & Utopie im Mandelbaum Verlag, Wien 2020. 304 Seiten, 22 Euro.

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