Ein Lichtblick im düsteren Coronajahr

Junge Leute reisen nach Brandenburg statt ins Ausland. Verluste gibt es trotzdem.

  • Wilfried Neiße
  • Lesedauer: 5 Min.

Eine verlängerte Atempause hat Brandenburgs Tourismusbranche mit dem schönen Wetter im September bekommen. Auch in Bad Saarow, dem Zentrum der Reiseregion Seenland Oder-Spree, saßen die Gäste in den vergangenen Tagen und Wochen auf den Terrassen und Freiflächen, genossen die Sonne des Spätsommers. Versöhnlicher Abschluss einer sehr schwierigen Saison?

Ein dickes Minus von 8,6 Prozent verzeichnet die Branche coronabedingt in der ersten Hälfte des Jahres 2020. Das ist ungewohnt, denn seit 1992 ging es für den Tourismus im Bundesland praktisch nur bergauf. Wirtschaftsminister Jörg Steinbach (SPD) vermag dennoch, der Lage etwas Positives abzugewinnen: Der Rückgang im Tourismus habe deutschlandweit mehr als 22 Prozent betragen, da sei Brandenburg noch relativ glimpflich davongekommen.

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Die Tourismus Marketing Brandenburg GmbH (TMB) stimmt auf die Herbst- und Wintersaison ein, die wenigstens einen Teil der Verluste kompensieren soll. Die große Therme in Bad Saarow wartet geradezu auf die kühle Jahreszeit. Das warme Wasser in der Therme genießt vor allem dann Zuspruch, wenn es draußen stürmt und schneit. Dennoch werde der Winter »aus mehreren Gründen schwierig«, weiß TMB-Chef Dieter Hütte. Denn was den Fremdenverkehr derzeit noch halbwegs aufrecht hält, sind die Aktivitäten im Freien.

Den von den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gebeutelten Hotels und Gaststätten hat durchaus geholfen, dass Reisen ins Ausland weitgehend ausgefallen sind. So setzt sich die Halbjahresbilanz des Tourismus in Brandenburg laut Steinbach aus äußerst widersprüchlichen Einzelheiten zusammen. Beeindruckend gewachsen ist das Interesse an einem Besuch in Brandenburg vor allem in den alten Bundesländern. Gegenüber dem Vorjahr wuchs die Zahl der Gäste aus Nordrhein-Westfalen um 48 Prozent, der aus Bayern um 68 Prozent, der aus Baden-Württemberg um 84 und der Gäste aus Hamburg sogar um über 500 Prozent. Oft nutzen solche Gäste den Aufenthalt in Brandenburg zu etwas, worauf sie sonst nicht gekommen wären: zu einem Abstecher nach Polen. Der Campingurlaub verzeichnete deutliche Zuwächse.

Dennoch hat das Seenland Oder-Spree, und hier in erster Linie seine vielen großen Hotels, mit 252 500 Gästeankünften in den ersten sechs Monaten des Jahres mit einem Rückgang von mehr als 40 Prozent zu kämpfen. Mit »Konzepten vor Ort« will das Seenland seine bislang gute Position als zweitbeliebteste Reiseregion in Brandenburg zurückgewinnen und setzt vor allem darauf, das Brandenburgs Stärken unter dem Eindruck von Corona doppelt stark sind: Einsamkeit, Natur, Bewegung.

Das Flachlandwandern beginne dem Hochgebirgswandern den Rang abzulaufen, meint der Wirtschaftsminister. Unter anderem im Hotel Velotel von Bad Saarow, das sich vor allem an Radler wendet, stellt Jeanette Gruner die neue Infosäule »Mein Brandenburg« vor. Jeder Gast kann sich hier über Angebote in der Umgebung ins Bild setzen. Dieses Konzept lebt davon, dass sich die Anbieter nicht als Konkurrenten sehen, sondern gemeinsam für eine lückenlose Angebotspalette sorgen.

»Tschüss Berlin« heißt die neueste Kampagne der örtlichen Vermarkter, erklärt Ellen Rußig, Geschäftsführerin des regionalen Tourismusverbandes. Es gelte vor allem, Menschen aus Berlin anzulocken, die dem Corona-Stress in der Großstadt kurz oder länger entfliehen wollen. Rußig erwähnt eine deutliche Verjüngung des Publikums in den vergangenen Monaten. Junge Menschen, die gewöhnlich bevorzugt Fernreisen unternehmen, entdecken in der neuen Situation ihre Heimat. »Für die neuen Zielgruppen brauchen wir attraktive Angebote und ein passendes Marketing, damit sie dem Reiseland Brandenburg weiterhin die Treue halten«, erklärte Minister Steinbach.

Man sei für die gewährten Soforthilfen dankbar, sie reichen aber nicht aus, um die Verluste zu kompensieren, sagte Velotel-Inhaber Jürgen Kliche. Es werde schwierig, in der strukturschwachen Gegend junge Menschen für eine Tätigkeit im Fremdenverkehr zu gewinnen, wenn ihr Berufsstart im ohnehin nicht üppig bezahlten Gewerbe gleich mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden sei.

Minister Steinbach weist darauf hin, dass die Hürden für die Überweisung von Hilfssummen ab dem 1. Oktober »deutlich abgesenkt« sein werden. Er habe mit 10 000 Anträgen gerechnet, nur etwas über 1000 seien bislang eingegangen. Steinbach zeigte sich entschlossen, den Wirtshäusern und Herbergen über die schwierige Zeit zu helfen. »Ich habe keine Lust, später in einem Scherbenhaufen zu wühlen.«

Unternehmer Thomas Höltzel von der Artprojekt-Gruppe plant, trotz Coronakrise in Bad Saarow ein weiteres großes Hotel und Ferienwohnungen zu bauen. »Wir hoffen, dass uns die Politik dabei so unterstützt wie das nahe gelegene Teslawerk«, sagt er.

Tourismus in Zahlen

  • Während es im Januar und Februar 2020 gegenüber dem Vorjahr noch einen Zuwachs an Übernachtungen gab, war der Tiefpunkt im April mit einem Minus von 90,6 Prozent erreicht.
  • Im ersten Halbjahr 2020 haben alle Reiseregionen Brandenburgs Verluste erlitten, einzig der Spreewald (plus 4,1 Prozent) und das Lausitzer Seenland (plus 4,5 Prozent) haben in dieser Zeit noch einen Besucherzuwachs verbuchen können.
  • Auf den Campingplätzen des Bundeslandes trafen im Juli mit 123 500 Gästen über zehn Prozent mehr als im Juli des Vorjahres ein. Bezogen auf das ganze erste Halbjahr schlug dennoch beim Camping ein Minus von 14 Prozent zu Buche.
  • Die Statistik zählte im vergangenen Jahr fast 100 Millionen Tagesreisen in die Mark.
  • Im Jahr 2019 betrug der brandenburgische Gesamtumsatz im Bereich Tourismus 6,1 Milliarden Euro.
  • Die Branche zählt rund 100 000 direkt und indirekt Beschäftigte.
  • In die amtliche Statistik fließen nicht die Angebote von Beherbergungsunternehmen mit weniger als zehn Betten ein. Dieser sogenannte graue Markt war in den vergangenen Jahren stark angewachsen. winei
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