Mythos Einheit

Eckart Conze über ein schweres Erbe: die Reichsgründung

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Schlafwandler waren hellwach. Das jedenfalls ist das Fazit, das Eckart Conze aus der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts zieht. Der Marburger Geschichtsprofessor setzt sich mit der von Christopher Clark entwickelten »Schlafwandler«-These auseinander, der für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht mehr - wie bislang - das deutsche Kaiserreich, sondern alle europäischen Großmächte verantwortlich macht. Conze bringt überzeugende Argumente gegen die These des im britischen Cambridge lehrenden australischen Historikers vor, die in Deutschland viele Anhänger, vor allem in konservativen und rechtsextremen Kreisen fand. Die nationalistischen, militaristischen, vor allem vom protestantischen Preußen ausgehenden Traditionen hätten auch weite Teile der einstmals liberalen Bürgerschaft erfasste. Mit dem Mythos von der Reichsgründung 1871 erfuhren sie eine neue Dynamik und beeinflussten die Entscheidungsträger im Kaiserreichs dahingehend, zielstrebig auf einen großen Krieg zuzusteuern.

Conze blickt auf die Befreiungskriege von 1813 bis 1815 zurück und auf die stecken gebliebene bürgerliche Revolution von 1848. Die danach ausgebliebene Parlamentarisierung in Preußen und den meisten anderen Ländern des Deutschen Bundes zeitigte fatale Folgen. Nirgends konnte die Regierung vom Parlament abberufen werden. In Preußen galt zudem bis 1918 ein Dreiklassenwahlrecht, das den Reichen ein deutlich stärkeres Stimmengewicht sicherte. In dieser Situation begann die politische Karriere von Konrad Adenauer, der 1906 ein Mandat im Kommunalparlament von Köln errang, was den späteren Bundeskanzler zeitlebens beeinflusste.

Seit der Berufung Otto von Bismarcks zum Ministerpräsidenten durch den preußischen König in einem Verfassungskonflikt, regierte dieser ohne, beziehungsweise gegen das Parlament. Bismarck steuerte Preußen bewusst, zunächst noch gemeinsam mit dem Rivalen Österreich-Ungarn, in einen Krieg gegen Dänemark. Es ging damals um Schleswig-Holstein. Zwei Jahre später schaltete Bismarck den österreichischen Rivalen im Deutschen Bund mit dem Sieg bei Königgrätz aus. Als letzte Hürde zur deutschen Vereinigung unter preußischer Führung führte er Krieg gegen Frankreich, zu dem er auch die süddeutschen Staaten überreden konnte. In der seine Handschrift tragenden Verfassung des 1871 in Versailles ausgerufenen Deutschen Kaiserreichs war das Primat Preußens garantiert und der Parlamentarisierung nur in einer rudimentären Form fixiert. Die Proklamation des preußischen Königs zum Kaiser fand vor einem fast ausschließlich uniformierten Publikum statt, was sich an dem von Hitler mit Reichspräsident Paul von Hindenburg inszenierten »Tag von Potsdam« wiederholen sollte - sichtbarer Ausdruck der Kontinuität des preußisch-deutschen Militarismus vom 1871 bis 1933.

Im Kaiserreich verbanden sich Militarismus und Nationalismus mit darwinistischen, rassistischen und antisemitischen Anschauungen. Die sogenannten Einigungskriege, die Völkermorde in den Kolonien in Ostafrika (heute Tansania) und Südwestafrika (heute Namibia), Macht und Gewalt, militärische Rituale und ein zunehmendes Überlegenheitsgefühl ließen nicht nur die Eliten, sondern weite Teile der bürgerlichen Gesellschaft regelrecht nach einem großen Krieg gieren. Niemand schlafwandelte in diesen, bekräftigt Conze. Die militärische Niederlage von 1918 führte nicht zu einem Umdenken, im Gegenteil. In der Weimarer Republik wirkte unheilvolles Gedankengut weiter, was den Weg ebnete in die Hitlerdiktatur, einen neuen Weltkrieg und den Holocaust.

Im Schlusskapitel rechnet Conze mit der Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg ab, die sich nur nach heftigen Auseinandersetzungen endlich die Sicht durchrang, dass der angebliche »deutsche Sonderweg« ein lange vorgezeichneter war sowie Hitler und Auschwitz kein »Betriebsunfall« waren. Conze ist für seine mit Verve verfasste Kampfschrift gerade auch gegen heutige Geschichtsrelativierer zu danken.

Eckart Conze: Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung und ihr schwieriges Erbe. dtv, 288 S., geb., 22 €.

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