Leben ohne Papiere

Der »Atlas der Staatenlosen« will über ein Menschenrecht aufklären

  • Kofi Shakur
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit Mittwoch ist der in Zusammenarbeit mit der Atlas-Manufaktur hergestellte »Atlas der Staatenlosen« erhältlich. Daneben gibt es einen Reader, der das Thema aus politischer und philosophischer Perspektive einordnet.

Auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Atlas zitierte Daniela Trochowski (RLS) die Flüchtlingsgespräche von Bertolt Brecht, der schon 1940 schrieb: »Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so eine einfache Weise zustande wie ein Mensch. [...] Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.«

Weltweit sind 4,2 Millionen Menschen als staatenlos registriert. Das bedeutet, dass es keinen Staat gibt, der sie als Staatsangehörige anerkennt und ihnen Dokumente ausstellt. Die genaue Zahl ist schwer zu ermitteln, da viele Länder keine Daten an die Uno weitergeben. Es wird jedoch von insgesamt mehr als zehn Millionen ausgegangen. Seit 2014 gibt es eine Kampagne des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, die Staatenlose identifizieren und ihnen bei der Erlangung einer Staatsangehörigkeit helfen soll.

Die RLS will mit dem Atlas einen Beitrag dazu leisten, die Perspektive der Betroffenen zu vermitteln und ihre Schicksale in den Fokus der öffentlichen Debatte zu holen. Dazu steht auf der Website der Stiftung auch ein kurzer Animationsfilm bereit, der persönliche Geschichten Staatenloser illustriert.

Wenig bekannt sei, so Trochowksi, dass auch Länder wie Elfenbeinküste, Thailand oder Lettland betroffen sind. Dass Menschen ihre Staatsangehörigkeit verlieren, kann aus politischen, religiösen, geschlechtsspezifischen oder rechtlichen Gründen geschehen. Oft wird ihnen kein Pass ausgestellt, wenn sie nicht im Besitz einer Geburtsurkunde sind. Nach der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte von 1948 hat allerdings jeder ein Recht auf eine Staatsangehörigkeit.

Die Rohingya, von denen heute bis zu eine Million in Bangladesch leben, werden seit dem Nationalitätengesetz von 1982 in Myanmar nicht als Staatsbürger anerkannt. Mehr als fünf Millionen palästinensische Geflüchtete leben in arabischen Staaten, die ihnen keine Dokumente ausstellen. In Côte d'Ivoire sind laut dem Atlas bis zu eine Million Menschen staatenlos. Viele von ihnen sind Nachfahren derer, die während der französischen Kolonialherrschaft durch Arbeitsmigration in das Land gekommen sind und mit der Unabhängigkeit staatenlos wurden. In Europa traf die Staatenlosigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion viele Roma, die bist heute oft Probleme haben, wenn sie Dokumente beantragen wollen und ohnehin in vielen Ländern diskriminiert werden.

Für die Betroffenen bedeutet Staatenlosigkeit oft, keinen Anspruch auf Bildung, Arbeit, politische Teilhabe oder Gesundheitsversorgung zu haben, was sie in der Pandemie besonders verletzlich macht. Doch es obliegt den einzelnen Staaten, wie beispielsweise Thailand, das nationale Gesundheitssystem für Staatenlose zu öffnen.

Auch für Matthias Reuß vom Regionalbüro für Asien und den Pazifik des UNHCR, der ebenfalls mit einem Beitrag in dem Atlas vertreten ist, handelt es sich bei Staatenlosigkeit um ein menschenrechtlich zentrales Problem. Die Lage, so Reuß, sei in starken Rechtsstaaten, die die internationalen Menschenrechte schützen, besser, als in Staaten, in denen dies nicht gewährt ist. Nach seiner Beobachtung spiele zwar auch Islamophobie eine Rolle, aber jede religiöse oder ethnische Gruppe könne von der Erlangung einer Staatsangehörigkeit ausgeschlossen werden. Oft habe die Situation auch Wurzeln in der kolonialen Vergangenheit der jeweiligen Staaten. Bis zu dreißig Länder hätten heute noch ein Problem mit massiver Diskriminierung im Staatsangehörigkeitsrecht. So könnten in einigen Ländern Frauen ihre Staatsangehörigkeit nicht an ihre Kinder weitergeben. Mittlerweile gäbe es jedoch graduelle Fortschritte auf dieser Ebene.

In zwölf Regional- und Länderberichten mit insgesamt 53 frei verwendbaren Grafiken verschafft der »Atlas der Staatenlosen« einen Überblick über das Thema. Er will jedoch auch Handlungsanweisung sein, um einen Ausgang aus dem Problem aufzuzeigen. Neben Auswegen aus der Staatenlosigkeit müsse es aber darum gehen, schreiben Ulrike Lauerhaß und Eva Wuchold von der RLS, »dass Staatsangehörigkeit nicht mehr nötig ist, weil alle Menschen tatsächlich frei und gleich sind.«

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