Amerikanischer Armutsalbtraum

Die Schönheit der Tristesse: Matt Blacks Fotos in der Hamburger Ausstellung »American Geography«

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 5 Min.

In seinem Tagebuch schrieb der US-amerikanische Fotograf Matt Black am 5. Januar 2016, dass ihn heruntergekommene Orte wie Tulare, Delano oder McFarland in Kalifornien, seinem Heimatstaat, zu dieser nun schon ein Jahr andauernden Rundreise durch die USA bewogen haben. Auf dieser legte Black letztlich 100 000 Meilen zurück und besuchte 46 US-Bundesstaaten. Die Stationen seines Roadtrips waren indes nicht willkürlich gewählt. Black machte gezielt in Ortschaften mit Armutsquoten über 20 Prozent halt, um dort Menschen, Straßenzüge, Gebäude oder Landschaften zu fotografieren. Das Resultat dieser fotografischen Dokumentationsreise ist die »Geography of Poverty«. Eine Auswahl von 78 Bildern (und Objekten) ist nun erstmals in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen.

Hier allerdings lautet der Titel »American Geography«. Was zunächst wie eine Entschärfung anmutet, weil das Wort »Armut« gestrichen wurde, entpuppt sich beim Betrachten der Bilder als Zuspitzung. Denn die 90 mal 90 Zentimeter großen schwarz-weißen Bilder vermitteln Hoffnungslosigkeit, Tristesse und Verfall. Auf diese Weise setzen Bilder und Titel die USA mit der Armut gleich. Das unterschlägt zwar die Dialektik von Reichtum und Armut im Kapitalismus. Dieser ist sich Black jedoch bewusst, wenn er in einer seiner bei Youtube dokumentierten Reden sagt, dass der konzentrierte Reichtum auf der anderen Seite Armut bedeutet.

Diesen von Armut betroffenen Menschen - es sind rund 40 Millionen - will Matt Black eine Stimme geben. So formuliert er es selbst. Seine Rolle vergleicht er dabei mit der eines Journalisten. Als Fotojournalist begann Black zu High-School-Zeiten zu fotografieren. Schon hier waren seine Bilder dem schwarz-weißen Stil des Fotojournalismus verpflichtet. Aber nicht nur die Ästhetik der Arbeiten des 50-Jährigen lässt sich auf seine Herkunft aus Visalia im Central Valley in Kalifornien zurückführen. Auch seine Themen - Armut, Migration, Landwirtschaft und Umweltverschmutzung - sind durch sie geprägt.

Armut in Kalifornien? Das ist nicht das erste, was einem zu diesem Bundesstaat einfällt, sondern eher der Glamour der Hollywood-Welt oder Strandszenen aus San Francisco oder Los Angeles. Doch mitten im auch »goldener Bundesstaat« genannten Kalifornien liegt das Central Valley, ein von Landwirtschaft geprägtes Längstal. Es wird auch das »andere Kalifornien« genannt oder der »Fruchtgarten« Amerikas. Jährlich wird hier ein Milliardenumsatz gemacht - allerdings auf dem Rücken der schlecht bezahlten, oftmals aus Mexiko eingewanderten, Arbeiter*innen und auf Kosten der Natur. Die ökologischen Schäden des industrialisierten Obstanbaus, die miserablen Arbeits- und Wohnverhältnisse der Arbeiter*innen, die Konsequenzen der durch die Migration entleerten Orte in Mexiko - all das hat Black in früheren Fotoprojekten gezeigt.

Beim Betrachten der Bilder vermutet man nicht, dass die Aufnahmen aus der Gegenwart stammen. Ein Eindruck, den man auch in der Hamburger Ausstellung hat. Teils denkt man, diese Bilder müssen doch aus den 50er Jahren stammen. Dann meint man, wie bei der Aufnahme des verfallenen Bahnhofs von Buffalo, hier hat jemand eine dystopische Filmkulisse abgelichtet. Die Menschen auf Blacks Fotos blicken finster und verschlossen, sofern ihre Gesichter überhaupt zu erkennen sind. Ein Mann lehnt seinen Kopf an einen Pfahl, als ob er angesichts der Beschwerlichkeit des Lebens eine kurze Pause bräuchte. Eines von Blacks Lieblingsmotiven ist ein einsamer Passant, der vor heruntergekommenen Häusern oder leeren Geschäften und bedrohlichen Schatten völlig verloren wirkt. Überhaupt sind die Menschen meist klein, die Gebäude hingegen groß dargestellt. Die Personen sind an den typischen Orten der Armut zu sehen: Obdachlosencamps, Schrottplätze, Reservate und verfallene Innenstädte.

Unter die quadratischen Bilder mischen sich gelegentlich Panoramabilder mit Landschaftsaufnahmen oder Städteansichten. Mitunter wirken sie schön, wie etwa eine Aufnahme von Flint, Michigan. Schnee hat sich auf Gehwege, Gärten und Häuser gelegt. Doch die Häuser sind verlassen. In Flint, durch Filme Michael Moores bekannt geworden, waren einst Zehntausende bei General Motors beschäftigt. Als die Werke dichtmachten, versank die Stadt in Armut.

Blacks Bilder tragen zwar deutlich dokumentarischen Charakter. Das wird verstärkt durch die Tagebucheinträge, die auf Texttafeln präsentiert werden, und durch abgebildete Gegenstände wie Feuerzeuge, Heiligenbildchen oder eine verbrannte Bibel, die Black auf seiner Reise vom Boden auflas. Auch zu ihnen werden kurze Erläuterungen präsentiert. Doch Blacks Bilder haben mit ihrer übersteigerten Klarheit, den scharfen Kontrasten und der Tiefenschärfe auch etwas Ästhetisches, sind stärker künstlerisch motiviert. Trotz der dargestellten hoffnungslosen Armut sind sie schön anzusehen.

Die postindustriellen Landschaften und die verheerenden Folgen für die sozialen Verhältnisse entlarven den US-amerikanischen Traum vom Reich der unbegrenzten Möglichkeiten so gründlich, wie man es zuvor vielleicht nur von der legendären Serie »The Wire« kannte.

Auch eine tagespolitische Frage wird durch »American Geography« aufgeworfen: Sind die von Black dargestellten Menschen Trump-Wähler? Dazu gibt es keine Angaben, aber man darf es annehmen. Denn obwohl es ein Mythos ist, dass Trump ausschließlich von den Abgehängten gewählt wurde, rekurriert sich aus diesem Milieu paradoxerweise auch ein Teil seiner Anhängerschaft.

In einem Tagebucheintrag gibt Black Sätze aus einer irritierenden Predigt eines Pastors wieder: »Amerika ist zu groß, um es von außen zu zerstören, wir werden von innen heraus zerstört werden.« Es ist die Armut, die Amerika zerstört, ist sich Black sicher. So sicher, dass er analog zu einem Vietnamveteranen-Memorial die Namen der bereisten Orte plus deren Armutsquote auf einer großen Installation auflistet.

Die Deichtorhallen zeigen parallel zu »American Geography« die Schau »American Beauty« des ebenfalls aus den USA stammenden Jerry Berndt (1943 - 2013). Auf seinen Bildern kann man bereits im Keim das erkennen, was bei Black dominierend ist. Aber bei Berndt, der selbst in der 68er-Bewegung aktiv war, erkennt man noch deutlich das Aufbegehren gegen das soziale Auseinanderdriften: Kundgebungen und Demonstrationen, auf denen zuversichtlich blickende Menschen klassenkämpferische Parolen wie »Jail the Rich. Free the Poor« vor sich hertragen. Eine gelungene Doppelpräsentation, die noch ergänzt wird durch die Schau »ProtestsGoViral«, die Bilder von Aktivismus auf Instagram zeigt.

»American Geography« von Matt Black; »American Beauty« von Jerry Berndt; »ProtestsGoViral«, alle bis 3. Januar 2021, Haus der Photographie, Deichtorhallen, Deichtorstraße 1-2, Hamburg

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